: Das Ende des Booms droht
„Alles wär' dann tot“: Auch wenn Hansa Rostock heute der Klassenerhalt gelingt, steht der ostdeutsche Bundesligist vor einem Scherbenhaufen ■ Aus Rostock Jörg Winterfeldt
Nach dem Training fährt Frank Pagelsdorf zumeist von der Kabine im Ostseestadion hinüber in die Geschäftsstelle des Klubs. Alles liegt auf demselben weitläufigen Sportareal inmitten des Hansa- Viertels von Rostock. Die Entfernung beträgt wenige hundert Meter, aber der Fußball-Lehrer Pagelsdorf legt sie dennoch mit dem Auto zurück. Den Weg hinauf in den dritten Stock des Backsteingebäudes bewältigt er mit dem Fahrstuhl. Tief im Inneren ist Pagelsdorf ein Faulpelz, in seinem Job ein fleißiger Arbeiter.
In Neufünfland haben sie den Zugereisten längst als einen der Ihren akzeptiert. Als er noch den Regionalligisten Union in Berlin trainierte, wohnte der ehemalige Bielefelder und Dortmunder Profi nicht im Westteil der Stadt, sondern in den Plattenbauten von Berlin-Marzahn. So was kommt an. 1994 wechselte er dann nach Rostock. Und seitdem steht der Fußball des FC Hansa für den Aufschwung Ost. Pagelsdorf führte damals die jüngste Profitruppe des bezahlten Fußballs auf Anhieb in die erste Liga. Den Milchgesichtern trichterte er geschwind das Entscheidende an der Balltreterei ein: „Tore zu schießen, statt den Fußball mit irgendwelchen Harakiri-Abwehrtaktiken kaputtzumachen“, schwärmt Spielgestalter Stefan Beinlich.
Nach der Saison wird Beinlich „für das Drei- bis Fünffache“ seiner Rostocker Bezüge nach Leverkusen wechseln, um fortan in einer Spitzenmannschaft zu versuchen, „mir meinen Traum zu erfüllen: einen Titel und Spieler in der Nationalmannschaft“. Auch der Libero André Hofschneider (zu 1860 München) und der Torjäger Jonathan Akpoborie (VfB Stuttgart) verlassen den Klub. Der wird damit auf einen Schlag all seiner Leistungsträger beraubt. Das steht lange fest, aber Panik herrscht in Rostock erst seit Mitte der Woche: Da wurde bekannt, daß der Übungsleiter Pagelsdorf Angebote hat aus Köln, Bremen und vom HSV, der mit zwei Millionen Mark Gage locken soll. Weil gegen den Abstieg noch ein Punkt her muß, wollte Pagelsdorf vor dem wichtigen Spiel heute in Bielefeld „die Trainerfrage nicht zum Hauptthema machen“, ein eindeutiges Bekenntnis zu dem noch ein Jahr gültigen Vertrag in Rostock verweigerte er ebenso. Auch wegen der Personalien bangt nun eine ganze Region um ihre sportliche Perspektive. Hansa hilft, das eigene Selbstwertgefühl aufzumöbeln, indem er den mächtigen West-Klubs Paroli bietet. „Weil wir hier aus fast nichts etwas gemacht haben, sehen die Menschen uns“, sagt Beinlich, „und schöpfen daraus Mut, daß man sich nicht zu schnell aufgeben sollte.“
Unten im Stadthafen an der Warnow sind Teile der Werften ganz abgerissen, an einem Gebäude prangt noch die 91er Losung „Arbeit, um zu leben“. Die Arbeitslosigkeit ist allein im letzten Jahr von 15,8 auf 18,7 Prozent emporgeschossen. In einer Erhebung des Leipziger Instituts für Marktforschung zur Lebensqualität im Osten landete Rostock im vergangenen Jahr an letzter Stelle unter 20 untersuchten Städten.
Wenn die Umfrage gleichzeitig ergab, daß die Rostocker sich wohler fühlen, als es die Statistiker zulassen, liegt das auch an Hansa. „Einen richtigen Fußballboom und Zulauf bei allen Klubs der Stadt“ hat etwa die Sportamtsleiterin Brigitte Grüner beobachtet, „seit der Verein das zweite Mal in die Bundesliga aufstieg“. Unmittelbar nach der Wende hat das Interesse an der Kickerei vorübergehend nachgelassen. „Jetzt laufen die Kinder wieder mit Schals rum und spielen selbst“, schwärmt auch der Vorsitzende des Hansa-Fanprojektes, Peter Schmidt, „nach der Wende hatten die doch nur Flipper und Videos im Kopf – alles, was es in der DDR nicht gab.“
Früher war Schmidt Bauschlosser auf der Neptun-Werft, seit 1995 ist er arbeitslos. Seine ABM-Stelle als Sozialarbeiter in dem Projekt ist nach einem Jahr ausgelaufen, aber der Oberfan schmeißt den Laden trotzdem weiter – als Rezept gegen Langeweile. Schmidt, Hansa-Anhänger seit 1971, sieht mit Freude, wie der Klub als einziger Erstligist des Ostens plötzlich überall in den neuen Bundesländern Sympathien genießt: „In der DDR mußten wir gegen alle kämpfen – gegen Sachsen, Thüringer und Berliner.“ Als Hansa in der vergangenen Saison nach einem Feuerwerks-Zwischenfall daheim indes zweimal in das Berliner Olympistadion ausweichen mußte, haben Menschen aus allen Regionen des Ostens das Stadion voll besetzt. Der Torwart Perry Bräutigam erhält „auf Urlaub zu Hause in der Gegend um Leipzig beschwörende Anrufe, daß wir unbedingt drinbleiben müssen“, das Hansa-Lied stammt aus der Feder der DDR-Band Puhdys.
Finanziell allerdings schlägt sich die allgemeine Anteilnahme nicht nieder. Hansa hatte im Schnitt in dieser Saison nur 18.360 Fans pro Heimspiel, die schlechteste Quote der Liga. „Die Preise“, zwischen 15 und 55 Mark, glaubt Sportamtschefin Grüner, „sind die Leute hier nicht gewöhnt.“ Mit dem bescheidenen 20-Millionen-Mark-Etat stößt Hansa daher stetig an Grenzen. „Irgendwann ist das hier erschöpft“, sagt Beinlich, „dann kann man nichts mehr machen.“ Gerade suchen sie nach einem neuen Hauptsponsor, weil der koreanische Autobauer sein 3,6-Millionen-Engagement gekündigt hat. Bisher hat Pagelsdorf erst drei eigene Amateure und zwei Regionalligakicker für die neue Saison verpflichten können. An eine erneute Zweitligasaison „mit ein paar Zuschauern, ohne Stimmung im Stadion“ mag der Fan-Projekt- Boß nicht denken: „Alles, was wir aufgebaut haben, wär' dann tot.“
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