piwik no script img

„Er war ein bißchen wortblind“

Georg Hermann, Berliner Erfolgsautor der Kaiserzeit, hinterließ träumende Dienstmädchen und weinende Anwaltsgattinnen. Jetzt ist er in einer Werkausgabe wiederzuentdecken  ■ Von Peter Jacobs

Es war zu jener seligen Zeit, als begabte Großstadtliteraten noch Schmöker schrieben statt schnelle Fernsehserien. Alltagsgeschichten von schwelgerischer Erzählkunst, aus denen Dienstmädchen ihre Tagträume strickten, an denen Bildungsbürger ihre Kenntnisse und den Wert ihrer gesicherten Existenz maßen. Und bei denen frustrierte Anwaltsgattinnen heimlich ins Kissen weinten. Massenliteratur zwar. Immerhin Literatur.

Ein heute weithin unbekannter Berliner Kaufmannssohn ohne Abitur, ohne den Ausweis irgendeiner systematischen Bildung erschrieb sich damals den Ruhm eines der Buchlieblinge des Kaiserreichs. Sein Roman „Jettchen Gebert“, angesiedelt in den bescheidenen Lebensverhältnissen assimilierter Berliner Juden, erlebte in dieser phantasiehungrigen, von elektronischen Medien unberührten Zeit mehr als 50 Auflagen und 1923 auch als Theaterstück die Premiere. Dazu kamen mehr als zwei Dutzend andere Romane und Erzählungen und Essays, Feuilletons, Reiseskizzen in unbekannt gebliebener Anzahl.

Nun ist dieser Georg Hermann, der eigentlich Borchardt hieß und den Vornamen seines Vaters zum Autorennamen wählte, in Berlin wieder präsent. Ein kleiner Verlag wagt das Abenteuer einer 21bändigen Werkausgabe. Im Herbst vergangenen Jahres sind Hermanns „Spaziergänge in Potsdam“ herausgekommen, literarische Aperitifs für Genießer preußischer Kulturhinterlassenschaften, und sein letzter Roman „Der etruskische Spiegel“, eines deutschen Juden römische Elegie. Jetzt ist „Kubinke“ da, der Roman vom Leiden eines von der Untreue dreier Dienstmädchen gebeutelten Berliner Friseurgehilfen aus gehobenem Zille-Milieu. Kubinke ist ein stiller, fast demütiger Vorgänger von Alfred Döblins aufbrausendem Franz Biberkopf aus tiefstem, urbanem Berlin.

Georg Hermanns Zeitgerüst: Geboren in der kinderreichen Familie eines von Gerichtsvollziehern verfolgten jüdischen Kaufmanns im deutschen Einheitsjahr 1871 im alten Berliner Westen, im sogenannten Geheimratsviertel jenseits des Potsdamer Platzes. Verschollen 1943 aus dem holländischen Internierungslager Westerbork. Als er den Viehwagen besteigen mußte, den die deutsche Wehrmacht in Holland für den Transport nach Auschwitz bereit hielt, war er 73 Jahre alt und schwer herz- und zuckerkrank.

Hermann, der Beobachter des Berliner Lebens der Jahrhundertwende, war ein Melancholiker, der sich verstand als einer auf der „Brücke einer Zeit, die es noch nicht gibt, und einer, der stirbt“. Er schrieb milieudichte, herzergreifende Geschichten von politisch- gesellschaftlicher Gegenwärtigkeit, mit desillusionierendem Blick, doch stets erfüllt von einer sensiblen Liebe zu dieser Stadt, ihrer Kunst, ihrer Historie. Ein literarischer Zeitgenosse von Zola in Paris, Virginia Woolf in London, Dreiser in New York. Ein zärtlicher Autor, der seine Figuren ein bißchen bei Fontane anlehnte und doch wußte, daß dessen Erzähltechnik nicht mehr tragen würde.

Einer der die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts nie ganz ablegte und seinen Schopenhauer gern mitgenommen hätte in das 20. Jahrhundert, aber nicht mehr wußte, wie. Ein sozial engagierter Autor überdies, der 1909 zu den Gründern des Schriftsteller- Schutzverbandes gehörte und einer der wenigen literarischen Köpfe von 1914, die sich nicht an der deutschen Kriegserklärung berauschten. Ein politischer Alleingänger mit Sympathien für die Linke, voller Enttäuschungen über die Revolution von 1918, mit Hoffnungen dagegen auf einen „temperierten Kommunismus“.

Sein soziokultureller Weitblick sagte ihm: „Prolet ist ein Durchgangsstadium zum Bürger, nicht mehr. (...) Rußland muß eine gute Sache sein, aber nur für die Russen.“ Kein Wunder, daß ihn der Völkische Beobachter begiftete und daß ihn die Nazis 1933 außer Landes trieben, lange bevor sie die Nürnberger Rassegesetze verfaßten.

Die Germanistik wollte Hermann immer gern aus dem ernsthaften Fach fernhalten und zur Unterhaltungsliteratur abschieben. Er war ein Flaneur der Sprache, der sich leicht verplaudert. Ein Vielschreiber auch, der es mit dem Redigieren nicht sonderlich genau nahm, sondern von Sekretären einfach abtippen ließ, was er mit bisweilen Balzacscher Weitschweifigkeit zu Papier brachte – Wiederholungen und orthographische Fehler inbegriffen. „Peps war ein bißchen wortblind“, erinnert sich milde seine Tochter Hilde Hansen, die heute in Kopenhagen lebt und den Nachlaß verwaltet. Gegen die alten Vorurteile ziehen die Herausgeber Gert und Gundel Mattenklott ins Feld: Ein Autor, „der seine Figuren liebte“ (Gundel M.) und „sich beim Schreiben selbst über die Schulter sehen konnte“ (Gert M.). Das Professorenpaar trägt in mühevoller Arbeit zusammen, was an halbwegs Orginalschriftlichem noch zu finden ist.

Man wollte die Eigentümlichkeiten „so weit wie möglich wiederherstellen, auch wo die Sätze manchmal grammatikalisch verdämmern“, sagt Gundel Mattenklott. Für viele Texte können die Erstdrucke nicht herangezogen werden, da Hermann später selbst noch Korrekturen vornahm. Die Editionen seiner holländischen Zeit, in winzigen Emigrantenverlagen herausgebracht, sind meist nicht einmal lektoriert worden.

Der Verlag Das Neue Berlin leistet sich nun den Luxus einer Werkausgabe. Als Auftraggeber firmieren der Fachbereich Germanistik der FU und das Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam. Alle Förderungsanträge wurden abschlägig beschieden. Verleger Oehme läßt sich dennoch nicht von naserümpfenden Verlegerkollegen entmutigen: „Manche sehen das als reine Narrheit an. Aber einmal muß man sich eine solche Liebhaberausgabe schon leisten.“

Georg Hermann, Werkausgabe, hrsg. von Gert und Gundel Mattenklott, Verlag Das Neue Berlin: „Doktor Herzfeld“, Roman, 480 S., 48 Mark; „Kubinke“, Roman, 400 S., 42 Mark; „Spaziergang in Potsdam“, 208 S., 34 Mark; „Der etruskische Spiegel“, Roman, 304 S., 38 Mark.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen