: Erschossen, einfach so
■ Ein Augenzeugenbericht über die Demonstrationen am 2. Juni
An diesem frühen Abend des 2. Juni habe ich den Schauspieler Nikolaus Dutsch bewundert. Mit unerhörter Treffsicherheit schleuderte er seine Farbeier quer über die Bismarckstraße auf die Prominenz, die der Eingangshalle der Deutschen Oper zustrebte. Fairerweise muß man zugestehen, daß die getroffenen Damen und Herren ihre verkleckste Garderobe würdevoll zur Vorstellung der „Zauberflöte“ trugen, die zu Ehren des kaiserlichen Ehepaars gegeben wurde.
Auf der der Oper gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich ein bunt zwischen Schah-Gegnern (Mehrheit) und meist betagten Schah-Fans (Minderheit) gemischtes Publikum eingefunden. Die Stimmung war heiter, wie oft bei Aktionen der frühen Studentenbewegung. Eben war unter lautstarken Hochrufen ein Deux-Chevaux an der Reihe der Demonstranten vorbeigefahren. Mit Papiermasken Reza Pahlewis und Farah Dibas sowie ihrer Leibwächter angetan, nahmen die Insassen des Wagens huldvoll die Ovationen entgegen. Kurze Zeit später erschienen die Staatskarossen, ohrenbetäubendes Pfeifen und matter Beifall – das war's gewesen.
Eben nicht. Minuten danach stürzten sich Polizisten von der anderen Straßenseite und von den Straßenecken her knüppelschwingend auf die konsternierten Demonstranten. Die Leberwurst wurde angepiekt, wie Polizeipräsident Duensing es treffend ausdrückte. In den Seitenstraßen warteten die Greiftrupps. Einige Studenten riefen zum Sitzstreik auf, mein Freund Haroun, seine Freundin und ich wußten es besser. Wir setzten uns möglichst schnell in die Krumme Straße ab und entgingen so der Festnahme. Wir hasteten an der Tiefgarage vorbei, ohne die Bluttat zu bemerken, die sich dort soeben ereignet hatte. Einige flüchtende Studis, darunter bislang notorische Schöngeister, rissen zwecks Selbstverteidigung Latten von dem Zaum, mit dem eine Baulücke Ecke Krumme/ Bismarckstraße verschönert worden war. Am Kurfürstendamm hörten wir die erste Nachricht von dem angeblich erstochenen Polizisten. Jähes Erschrecken, dann die Gewißheit: polizeiliche Desinformation, eine weitere Lüge in der endlosen Lügenkette. Wiederum ein paar Minuten später erfuhren wir das Unbegreifliche, die Wahrheit. Ein Student war erschossen worden, einfach so.
Am Vormittag des gleichen Tages war vor dem Schöneberger Rathaus ein zahlreiches, ebenfalls gemischtes Publikum erschienen, um des Kaiserpaars zu harren. Die rituelle Eintragung ins Goldene Buch stand an. SDS-Genosse Horst K. verteilte verstohlen Farbeier. Als es soweit war, ging mein erster Wurf daneben, beim zweiten hatte mich ein ziviler Greifer beim Wickel. Erstaunlicherweise ließ man mich nach „erkennungsdienstlicher Behandlung“ wieder frei, so daß ich mich planmäßig am späten Nachmittag gegenüber der Oper einfinden konnte.
Aus heutiger Sicht ist kaum noch nachvollziehbar, wie schwer es mir damals fiel, die Grenzen, die das Strafgesetzbuch setzte, zu überschreiten, selbst wenn es sich um strikt symbolische Aktionen handelte. Wie groß die Angst war, zur Nachtzeit die harmlosen Steckbriefe zu kleben, die den Schah als Mörder anprangerten. Und wie außerhalb jedes Verhältnisses die Strafverfolgung war.
Am Abend des 1. Juni hatte ich ein Teach-in im Audimax der FU ganz nach dem Herzen der rebellierenden Studenten erlebt. Nirumand und Rechtsanwalt Heldmann hielten die Referate: sachlich, faktenreich, mit dem geliebten großen Bogen vom BRD-Imperialismus zur geplanten Action. So stark wirkte noch das Vorbild des amerikanischen „Free-Speech- Movement“, daß sogar ein Vertreter der persischen Botschaft das Wort ergreifen konnte, freilich keineswegs störungsfrei. Ich selbst war beauftragt, darauf hinzuweisen, daß auch die verräterischen Kreml-Bürokraten den Schah in Ehren empfangen hatten, eine Aufgabe, der ich mich als notorischer Antisowjetist gerne entledigte. Allerdings war diese Kritik des realen Sozialismus wenig konsequent. Denn wie fast alle Teilnehmer des Trauerkonvois nach Hannover in der folgenden Woche willigte ich ein, daß mir die Transitgebühren erlassen wurden, und nahm auch keinen Anstoß an den „Ehrenbezeugungen“ der FDJ. Was bedeuteten schon solche Kleinigkeiten wie der Kampf um den Status von West-Berlin? Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen