: Säuglinge in Not
Jedes Jahr sterben rund 900 Neugeborene hierzulande am Plötzlichen Kindstod ■ Von Michael Westphal
Was sich für Eltern wie ein grausames Orakel, eine Strafe von oben darstellt, davor stehen Wissenschaftler und Mediziner gleichermaßen wie vor einem Rätsel. Gemeint ist der „Plötzliche Kindstod“, der scheinbar aus dem Nichts kommt und nach dem Leben des Neugeborenen trachtet. Wilde Spekulationen, kaum haltbare Hypothesen und immer wieder Angst ranken um dieses katastrophale Ereignis. Dem zu begegnen und vor allem werdenden Eltern einen Leitfaden an die Hand zu geben, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten haben, ist das Ziel eines Seminars der Kinderklinik Bethel, eines der größten Zentren für Neu- und Frühgeborene in der Bundesrepublik, und der AOK Bielefeld, die diese Veranstaltung organisiert.
Professor Johannes Otte ist Chefarzt des Bielefelder Kinderklinikums und um die Aufklärungsarbeit bemüht. „Wir nehmen an, daß die Regulation der Atemtechnik bei solchen Kindern nicht funktioniert hat“, äußerte sich Otte zurückhaltend über den medizinischen Kenntnisstand zum SID (Sudden Infant Death). Das im Gehirn des Säuglings lokalisierte Zentrum für die Atmung sei offenbar bei den Betroffenen nicht vollständig ausgereift, so daß der „komplexe Zusammenhang zwischen Atmung und Herztätigkeit aus dem Gleichgewicht geraten sei“ und zur lebensbedrohlichen Situation bis schließlich zum Tod geführt haben muß. Daß dieses Atemzentrum noch nicht in der Weise ausgeprägt ist, um einwandfrei zu „arbeiten“, sei bereits dann gegeben, wenn der Säugling zur SID-Risikogruppe zählt.
Das sind in Ottes Augen vor allem die sogenannten „Frühchen“, die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren werden und unmittelbar nach der Geburt medizinisch äußerst intensiv betreut werden müssen. Diese Kinder benötigen viel Zeit, um dieses Defizit aufzuholen. Mediziner sprechen auch von einer „intrauterinen Wachstumsverzögerung“, die nur nach und nach ausgeglichen wird. Zur Risikogruppe zählt Otte überdies Mehrlingsgeburten, bei denen oftmals ein drastisch reduziertes Geburtsgewicht vorläge. Schwangere, die stark rauchen oder Drogen konsumieren, verursachen durch ihre Lebensgewohnheiten diese Entwicklungshemmung ihrer Kinder. Der Kinderarzt rät daher, während der Schwangerschaft das Rauchen völlständig einzustellen und ein selbst auferlegtes Rauchverbot auch über das erste Lebensjahr des Kindes hinaus strikt einzuhalten. Denn: Der Plötzliche Kindstod tritt in 98 Prozent der Fälle innerhalb der ersten neun Lebensmonate auf. Nach dem ersten Geburtstag ist die Gefahr am Plötzlichen Kindstod zu sterben – so Otte – praktisch gebannt.
Bis dahin freilich leben viele Eltern in der ständigen Angst, ihr Kind wache plötzlich nicht mehr auf. Kein Mediziner könne Eltern eine „vollständige Garantie“ dafür geben, daß ein SID ausgeschlossen sei. Kein Kind, insbesondere aus der beschriebenen Risikogruppe, gehe jedoch aus dem Kinderkrankenhaus, ohne daß entsprechende aufwendige Untersuchungen durchgeführt worden sind. Verläuft dieser Gesundheitscheck ohne nennenswerte Auffälligkeiten wird der Säugling ganz der Verantwortung der Eltern übergeben, aber auch deren Angst.
Die „Arbeitsgemeinschaft der nordrhein-westfälischen Kinderkliniken zur Prävention des Plötzlichen Kindstodes“ (AKIPS), in der Bielefeld eine Vorreiterrolle spielt, tritt deshalb mit Aufklärungsveranstaltungen an die Öffentlichkeit. Nicht zuletzt, um Eltern einen besseren Umgang mit dieser Angst zu ermöglichen. Um ihnen aber auch einfachste Regeln mit auf den Weg zu geben. Seit mehreren Jahren wird beispielsweise die Empfehlung gemacht, das Baby nicht in der Bauchlage einschlafen zulassen, sondern stets in Rückenlage. Durch diese verhältnismäßig unspektakuläre Maßnahme sind die Todesfälle mit Diagnose SID dramatisch (über 40 Prozent) zurückgegangen. 800 bis 900 Neugeborene sind dennoch, bevor sie das erste Lebensjahr erreichen, vom Plötzlichen Kindstod betroffen. Er ist damit eine der häufigsten Todesursachen im Kindesalter. Aus Angst, daß Kind könne sich verschlucken, ist die Rückenlage bei Eltern vielfach verpönt. Die anatomischen Schutzvorrichtungen im Körper wüßten dies aber zu verhindern, so der Kinderarzt Otte.
Selbstverständlich hat die Medizintechnik mittlerweile entsprechende Gerätschaften auf den Markt gebracht, die die Lebensäußerungen des Kindes, vor allem während des Schlafes, überwachen. „BabyGuard“ nennt sich der Monitor, der mittels einer Membran, die wie ein Pflaster auf die Bauchdecke des Säuglings geklebt wird, die Atemtätigkeit kontrolliert. Zeigt dieser beispielsweise 18 Sekunden lang keine Atemtätigkeit, schrillt das Gerät die entsetzten Eltern ans Kinderbett. Nun sollte nicht jedes Neugeborene mit diesem Monitor nach Hause geschickt werden. Treten bereits in der Klinik Apnoen, Atemstillstände, auf oder hat das Kind durch eine künstliche Langzeitbeatmung Lungenschädigungen davongetragen, so wird dieses Baby-Monitoring empfohlen. Auch bei vegetativen Symptomen, etwa auffallend starkes Schwitzen des Säuglings, ist bereits einen medizinische Indikation gegeben.
Doch was tun, wenn nicht das Kind, sondern der Baby-Computer Alarm schreit? Wenn Eltern ihren Nachwuchs wie tot im Bett vorfinden? Es gilt bei allen Entsetzen, nicht in Panik auszubrechen. Der Kinderarzt will den Eltern, die dieses Seminar besuchen, vor allem praktische Übungen zur Wiederbelebung des in Not geratenen Babys vorführen. Die Basisfertigkeiten sind in einem einprägsamen „ABC“ festgehalten: Atmung, Beatmung, Circulation. „Kontrollieren Sie als erstes die Hautfarbe des Säuglings“, ermahnt Otte. Ist diese bläulich verfärbt, so deutet das auf einen bereits bestehenden Sauerstoffmangel hin. Liegt damit ein begründeter Verdacht vor, daß die Atmung ausgesetzt hat, ist das Kind hochzunehmen, wobei der Hinterkopf unbedingt gestützt werden muß: „Stimulieren Sie das Kind, in dem Sie den Rücken reiben. Schütteln Sie es in keinem Fall“. Zeigt der Säugling daraufhin keine Lebenszeichen, ist mit dem ABC zu beginnen: Atemwege freimachen, Mund-zu-Mund-Beatmung und, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu setzen, mit den Daumen das Herz massieren.
Keinem Elternteil ist diese Situation jemals zu wünschen. Dennoch konnten die drei maßstabsgetreuen Gummibabys mit integrierter Atmungskammer ihren Teil dazu beitragen, zumindest bei den Eltern des Bielefelder Seminars, eigene Blockaden und Hemmungen, einem Säugling „Erste Hilfe“ zu leisten und ihm mit dem eigenen Atem wieder Leben einzuhauchen, abzubauen und so „Hilfe gegen die Angst“ anzubieten, so wie sich das Seminar versteht. Muß eigens erwähnt werden, daß sich bei diesen Übungen das sonst so starke Geschlecht eher im Hintergrund hielt?
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