: „Die bosnischen Kinder werden einfach fallengelassen“
■ Veranstaltung im Grips Theater kritisiert die Abschiebepraxis des Berliner Senats nach Sarajevo. Flüchtlingskinder aus Bosnien leiden verstärkt unter Rückkehrängsten. Solidarität des Publikums
„Asra – die von gegenüber“ ist ein Theaterstück im Grips über ein bosnisches Mädchen und seine Familie, die in einem Berliner Flüchtlingsheim leben. Seit Jahren lief es gut besucht. Jetzt hat die Gegenwart das Stück gleich in zweifacher Hinsicht eingeholt: Die ZuschauerInnen bleiben weg, weil sie glauben, die Probleme der Flüchtlinge hätten sich bald erledigt. „Außerdem trifft es einen unserer Schauspieler“, erklärte Grips-Theaterleiter Volker Ludwig. „Vier Jahre war er hier. Vor ein paar Wochen wollte er sich eine Arbeitsverlängerung holen. Statt dessen wurde ihm der Paß abgenommen und seine Abschiebung zum 5. Juni angedroht.“
Ein Brief von Kultursenator Peter Radunski (CDU) an seinen Parteikollegen, den Innensenator Jörg Schönbohm, blieb bis heute ohne Antwort.
Das Grips Theater lud unterdessen am Sonntag abend Flüchtlinge und andere Berliner zu „Einsammeln und über Sarajevo auskippen? – Ein deutsches Rückführungsprogramm“, um auf die Unmenschlichkeit der Abschiebepraxis aufmerksam zu machen. Sibylle Rothkegel vom Behandlungszentrum für Folteropfer wies bei der Podiumsdiskussin darauf hin, daß sich die Traumatisierungssymptome ihrer Patienten seit dem Daytoner Abkommen wieder verstärkten. Grund seien die massiven Aufforderungen, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen, obwohl viele Häuser serbisch besetzt und Kriegsverbrecher nach wie vor nicht verhaftet sind. Zwar sollen traumatisierte Menschen als letzte zurückgeschickt werden können. „Voraussetzung aber ist, daß man sich bis zu einem Stichtag seine Traumatisierung attestieren läßt.“ Das Zentrum für Folteropfer hält das für nicht machbar. Holocaust-Traumatisierte hätten Jahrzehnte gebraucht, um über ihre Erlebnisse zu reden.
Senada Marjanović, bosnische Buchautorin, die seit Jahren mit Flüchtlingskindern in Zehlendorf arbeitet, verwies auf deren ausgesprochen komplizierte Situation. „Gerade die Kinder wollten, als sie hierherkamen, beweisen, daß sie den deutschen gleichwertig sind. Viele gehören zu den Besten in ihrer Klasse.“ Jetzt, berichtet die Sozialarbeiterin, würden LehrerInnen ständig danach fragen, warum sie noch da sind und nicht nach Hause gehen. „Die Kinder werden fallengelassen. Etliche halten es bereits für sinnlos, hier weiter in die Schule zu gehen.“
Unerträglich ist auch der Zustand, nicht zu wissen, wohin man gehört, bekannte ein junger Mann aus dem Publikum. Nach Bosnien zu gehen, das nur zu einem Viertel für die Bosnier, die früher dort lebten, zugänglich ist, sei derzeit nicht möglich. „Stellen Sie sich vor, es wäre Kriegsende 1945 in Deutschland, Stillstand an den Fronten, nur Sachsen wäre frei, und alle deutschen Flüchtlinge sollten dorthin, weil andernorts die Nazis noch an der Macht sind“, versuchte Bosilijka Schedlich vom südost-Europa-Kulturzentrum den ZuhörerInnen im Grips Theater zu vermitteln. Ismail Kosan, Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, lehnte derartige Vergleiche zwar ab, hält nach einer Informationsreise durch das ehemalige Jugoslawien eine Rückkehr muslimischer Flüchtlinge in die „Republika Srpska“ und nach Herceg-Bosna und binationale Ehen keinesfalls für möglich.
In Bijeljina, bestätigte auch taz- Journalistin Julia Naumann, die mit den Bündnisgrünen reiste, sei es bereits zu Übergriffen auf Muslime gekommen. „Jede unbedachte Rückführung“, so Ismail Kosan, könne zu einer Zuspitzung der Lage „mit künftig noch mehr Flüchtlingen“ führen. Der Abgeordnetenhauspolitiker unterstrich die Forderung seiner Partei, jene, die freiwillig heimkehren wollten, besser zu unterstützen, und forderte den Senat dazu auf, mehr Mittel für die unabhängige Rückkehrberatung zur Verfügung zu stellen.
Eine Lehrerin im Publikum bot – beschämt durch die wachsende Gleichgültigkeit der deutschen Bevölkerung und empört vom Auftreten ihrer „Kolleginnen“ gegenüber Flüchtlingskindern – spontan Unterstützung an. BesucherInnen unterzeichneten zudem den Berliner Appell, mit dem sich Vertreter namhafter Organisationen gegen eine Politik der Abschiebung und Verunsicherung traumatisierter bosnischer Flüchtlinge derzeit an die Innenministerkonferenz, den Senat und die Bundesregierung wenden. Für den 5. Juni, 12 Uhr, haben die Initiative bosnischer Bürger in Deutschland, der Landesverband und die Fraktion der Bündnisgrünen sowie antirassistische und antifaschistische Initiativen zu einer bundesweiten Demonstration vom Adenauerplatz zum Innensenat am Fehrbelliner Platz aufgerufen. Kathi Seefeld
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