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Langfristig gegen die Islamisten

Heute will der türkische Ministerpräsident Erbakan zurücktreten, Tansu Çiller soll die Regierung übernehmen. Die Macht aber liegt mehr denn je in den Händen der Militärs  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Der türkische Ministerpräsident Necmettin Erbakan will heute bei Staatspräsident Süleyman Demirel seinen Rücktritt einreichen. Geht es nach dem Willen der Koalitionspartner, soll Außenministerin Tansu Çiller von der konservativen Partei des Rechten Weges (DYP) bis zu den für Oktober geplanten Neuwahlen das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Erbakan strebt während der „Wahlregierung“ keine Mitgliedschaft im Kabinett an. Stellvertretender Ministerpräsident soll ein Abgeordneter seiner Wohlfahrtspartei werden.

Die neue Regierung benötigt das Vertrauensvotum des Parlaments. Durch zahlreiche Austritte aus Çillers DYP hat die Koalition ihre Mehrheit im Parlament verloren, und weitere DYP-Abgeordnete haben schon erklärt, daß sie selbst im Fall der Ministerpräsidentschaft ihrer Parteivorsitzenden einer Koalition unter Beteiligung der Islamisten das Vertrauensvotum verweigern werden. Unterstützung erhält Çiller von der rechtsextremen Großen Einheitspartei (BBP). Deren Chef Muhsin Yazicioglu kündigte gestern in Ankara an, seine achtköpfige Fraktion werde einer Çiller-Regierung das Vertrauen aussprechen.

Die bürgerliche Opposition unter Führung von Çillers ehemaligem Koalitionspartner Mesut Yilmaz will bis zu den Neuwahlen eine Regierung unter Beteiligung der Partei des Rechten Weges, doch unter Ausschluß der Wohlfahrtspartei. Çiller selbst dürfe aber kein Amt übernehmen, forderte Yilmaz.

Doch der ganze Parteienstreit ist eher Detailfrage angesichts der Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Militärs. Seit vergangene Woche in einem Briefing des Generalstabs die Regierung Erbakan und die Wohlfahrtspartei attackiert und offen mit einem Putsch gedroht wurde, steht das Parlament im Schatten der Generäle. Die Militärs, die nach eigenem Bekunden das „laizistische, republikanische Regime“ bewahren wollen, hatten nicht nur das kurzfristige Ziel im Auge, Erbakan zu stürzen. Die Beschlüsse des Nationalen Sicherheitsrats und die verschiedenen Vorträge im Generalstab vergangene Woche zeigen, daß es den Militärs darum geht, den Einfluß der islamistischen Bewegung auch mittel- und langfristig zurückzudrängen.

Durch die Erhöhung der Grundschulpflicht auf acht Jahre, durch die Schließung religiöser Schulen, durch straffe Zügel bei dem staatlichem „Amt für religiöse Angelegenheiten“ und durch neue Repressionsparagraphen wollen die Militärs versuchen, der islamistischen Bewegung das Rückgrat zu brechen. Und diese Beschlüsse des Sicherheitsrats werden im künftigen Regierungsprogramm stehen, egal welche Regierung nach den Wahlen regieren wird – bereits heute ist der Wohlfahrtspartei, wenn sie nicht gar verboten wird, die Oppositionsrolle zugedacht.

Das Dilemma Erbakans liegt darin, daß er die offene Konfrontation mit dem Militär nicht riskieren will. Während die Militärs mit dem Putsch drohen, verbreitet Erbakan weiter die Mär von der Harmonie zwischen Regierung und Armee. Zudem ist das Ansehen der Partei, die einst als demokratische „Systemalternative“ antrat, während der einjährigen Koalition lädiert worden. Als nach einem Verkehrsunfall November vergangenen Jahres kriminelle Bande zwischen Mafia, Polizei und Politik offen zu Tage traten und Koalitionspartnerin Çiller und weitere DYP-Politiker der Partei des Rechten Weges schweren Vorwürfen ausgesetzt waren, war Erbakan tatkräftiger Retter in Not. Als Gegenleistung erhielt er freie Hand beim Versuch, die Justiz von unliebsamen Staatsanwälten und Richtern zu säubern und nutzte die Machtpositionen in der Regierung, um den Beamtenapparat mit eigenen Anhängern zu unterwandern.

Die Chance, die Wahlen zum Volksentscheid zwischen Militärherrschaft und ziviler Gegenmacht unter Führung der Wohlfahrtspartei zu stilisieren, hat Erbakan verpaßt. Mit den mächtigen Militärs im Hintergrund wird die Hauptschlacht zwischen „Laizisten“ und „Islamisten“ geschlagen werden. Doch dann ist Erbakan in einer Minderheitenrolle.

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