: Eurotunnel gehört bald den Banken
■ Die Kleinaktionäre stimmen widerwillig der Umschuldung zu. Damit haben sie ihren finanziellen Verlust besiegelt
Paris (taz) – „Wie viele Strohmänner sitzen hier im Saal?“ fragt der alte Mann mit zitternder Stimme ins Mikrofon. Nachdem er stundenlang gewartet hat, um vor der Versammlung der Kleinaktionäre zu sprechen, fällt ihm jetzt, da er sich anschickt, seine zwei eng beschriebenen Seiten zu verlesen, Eurotunnel-Präsident Patrick Ponsolle ins Wort: „Fassen Sie sich kurz. Sie haben 30 Sekunden.“
Die Kleinaktionäre in dem Kongreßzentrum im Pariser Westen toben. Manche haben Sticker der militanten Interessenvertretung Adacte auf die Jacke geklebt, die lieber einen Konkurs der Eurotunnel-Gesellschaft in Kauf nehmen will als deren Übergabe an die Gläubigerbanken. „Betrüger!“ schreit eine Dame aus ihrem Polstersessel an die Adresse der Direktion. „Mafia!“ tönt es vom Nebensitz. „Erpresser“ schallt aus den hinteren Reihen. Zwei Stunden später hat Ponsolle trotzdem das gewünschte „Ja“ zu dem „Restrukturierungsplan“ in der Tasche, den er anderthalb Jahre lang ausgetüftelt hat. Seine Drohung, daß eine neuerliche Nachverhandlung definitiv ausgeschlossen und die einzige Alternative der Konkurs sei, hat überzeugt. 98 Prozent der Kleinaktionäre stimmen am späten Donnerstag abend seinem Plan zu.
Danach werden die Bankschulden der Tunnelgesellschaft in Höhe von 70 Milliarden Franc (21 Milliarden Mark) in Kapital umgewandelt, und die über 200 Gläubigerbanken erhalten Obligationen, die teils sofort, teils im nächsten Jahrtausend in Anteile an der Tunnelfirma umgewandelt werden können. Im Gegenzug reduzieren sie die Zins- und Schuldenlast um zwei Milliarden auf 3,5 Milliarden Franc im Jahr.
Die 720.000 Kleinaktionäre, mehrheitlich Franzosen, haben damit nicht nur langfristig einen großen Teil ihrer Einflußmöglichkeiten auf die Unternehmenspolitik von Eurotunnel an die Banken abgegeben, sondern letztlich auch ihren finanziellen Verlust besiegelt. Viele Kleinaktionäre sind schon 1987, als die Aktien zu einem Kurs von 35 Franc (gut zehn Mark) aufgelegt und als „risikofreie Familienvateranlage“ angepriesen wurden, in das Tunnelprojekt, von dem schon Napoleon geträumt hatte, eingestiegen. In den Folgejahren vervielfachten die „Volksaktien“ ihren Wert und lockten so weitere Kleinaktionäre. In den 90er Jahren dann sackte der Kurs in eine Tiefe, die viele ruinierte. Vor der Kleinaktionärsversammlung, die wegen der Wahlen in Großbritannien und Frankreich zweimal verschoben worden war, lag er bei 8,25 Franc.
Der ohnehin stark gesunkene Wert der Anlage ist nun durch die Kapitalaufstockung massiv verringert und die Aussicht auf Dividende weit ins nächste Jahrtausend verschoben worden. Die Kleinaktionäre haben Demonstrationen und Pressekonferenzen organisiert, haben die Eurotunnel- Gesellschaft wegen Mißwirtschaft und die französische Regierung wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht verklagt.
Einzelne schaffen es, ihre Wut ins Mikrofon zu schreien. Von ihnen muß sich Präsident Ponsolle anhören, daß er ein „abgekartetes Spiel mit den Banken“ betrieben und absichtlich die Kosten in die Höhe getrieben habe. Ihn ließ das ungerührt. Seit der Abstimmung vom Donnerstag abend hat er freie Hand. Dorothea Hahn
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