■ New York: Die Polizei greift durch, säubert die Straßen und zahlt viel Schmerzensgeld an die Opfer ihrer Willkür: Die Stadt, der Müll und das Leben
Eine kurze Rückblende: Wir befinden uns im Monat Mai des Jahres 1994, und in den USA starren die Bürger im Geiste auf den entblößten schneeweißen Hintern eines 18jährigen Landsmannes namens Michael Fay. Der befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem Gefängnis in Singapur und erhält vier Stockhiebe auf besagtes Gesäß, weil er Autos mit Grafitti verunziert haben soll. Der US-Präsident protestiert gegen eine solche, als Folter aufgeführte Behandlung eines Amerikaners; Singapurs Innenministerium zuckt ungerührt die Achseln und läßt ausrichten, man brauche solche Methoden, um keine Verhältnisse wie in New York aufkommen zu lassen. Etwa die Hälfte der Amerikaner applaudiert – nicht ihrem Präsidenten, sondern dem asiatischen Stadtstaat, wo die Straßen sauber, die Kriminalitätsraten niedrig sind und öffentliches Kaugummikauen mit einer empfindlichen Geldbuße geahndet wird.
Nun sind die Beziehungen zwischen der One and only-Supermacht und den kleinen und großen Tigern Asiens bekanntlich alles andere als spannungsfrei. Aber in diesem Fall reagierte man auf die verbale Ohrfeige und die physischen Stockhiebe nicht empört und beleidigt, sondern zerknirscht und reumütig. Warum sollte New York nicht ein wenig von Singapur lernen? Soll heißen: die rhetorische Symbiose von Schmutz und Kriminalität nachvollziehen und dem Berufsbild der Polizei das Profil eines mit staatlichem Gewaltmonopol ausgestatteten Putzkommandos verleihen. Soll heißen: durch die Kriminalisierung kleinster Regelverstöße gegen die öffentliche Sauberkeit und Ordnung – vom Radfahren auf dem Bürgersteig bis zum öffentlichen Alkoholkonsum – sollen schlimmere Straftaten vorab verhindert werden – frei nach dem Motto: Wir kehren erst einmal alle Schwarzfahrer, Säufer, Obdachlose, Taschendiebe, Sprayer, Schulschwänzer, Bodenspucker und Baumpinkler zusammen. Das verschönert erstens das Stadtbild. Zweitens lassen sich als Nebeneffekt aus dem Haufen auch noch ein paar richtige Kriminelle herauspicken. Ein Art Rasterfahndung im Namen der gesellschaftlichen Hygiene. Und New York meldet Vollzug: Die Straßen sind sicherer und sauberer – und in Singapur soll so schnell keiner mehr die Nase über den Broadway rümpfen.
Lassen wir mal beiseite, daß die sinkenden Kriminalitätszahlen viel mit demographischen Entwicklungen, dem Rückgang von Crack und der Zunahme von Jobs zu tun haben. Andere US-Städte verzeichnen diesen Trend ebenfalls – ohne daß man dort die Grafittis von den U-Bahn-Waggons geschrubbt oder summarisch Schwarzfahrer festgenommen hätte. In New York hat er zweifellos auch mit der erhöhten Präsenz einer Polizei zu tun, die nach einer Kette von Skandalen Anfang der 90er Jahre die Korruption in den eigenen Reihen bekämpft hat.
Auch auf die Gefahr hin, die Meister-Propper-Feierstimmung in New York und die Lernbegierde so mancher deutscher Polizeipräsidenten und Ordnungspolitiker zu trüben, sei auf folgendes hingewiesen: Wenn der Kampf gegen Kriminalität immer häufiger mit den Metaphern der Müllentsorgung diskutiert wird, dann schwindet bei manchen Hütern der Ordnung und der Sauberkeit wie auch bei manchem Politiker das Vermögen, zwischen Abfall und Menschen zu unterscheiden. Für einige brasilianische Polizisten bedeutet Säuberung der Straßen, nachts schlafende Straßenkinder abzuknallen.
In New York interpretieren einige Cops ihren Auftrag zum „Aufräumen“ dahingehend, daß damit die Bürgerrechte bestimmter Leute sowie die Restriktionen beim Einsatz tödlicher Gewalt aufgehoben sind. Das hat der Stadt – neben euphorischen Presseberichten über das vermeintliche Polizeiwunder – eine Untersuchung durch amnesty international eingetragen, in der in den letzten Jahren eine massive Zunahme von Todesfällen im Polizeigewahrsam, „finalen Rettungsschüssen“ in den Rücken von Verdächtigen sowie Mißhandlungen bei Festnahmen registriert wurden.
Überdurchschnittlich häufig betroffen sind – surprise, surprise – Angehörige ethnischer Minderheiten. 1994 mußte die Stadt Opfern von Polizeiübergriffen mehr als 24 Millionen Dollar an Schadensersatz und Schmerzensgeldern überweisen. 1992, vor dem großen Reinemachen, waren es noch 13,5 Millionen Dollar.
Womit man beim entscheidenden Punkt des New Yorker „Polizeiwunders“ wäre: Dort versteht sich die Polizei mittlerweile als effizienter, nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeitender Dienstleistungsbetrieb, der die Nachfrage seiner Kunden – der Bürger also – nach Sicherheit, oder zumindest dem Gefühl der Sicherheit, und Sauberkeit erfüllt. Gegen den Gedanken eines effizienten Dienstleistungsbetriebs ohne Obrigkeitsattitüde ist absolut nichts einzuwenden. Im Gegenteil: gerade diejenigen, die am härtesten von Gewaltkriminalität betroffen sind – die Bewohner armer oder verslumter Wohnblocks –, kamen bislang am wenigsten in den Genuß polizeilichen Schutzes. Die Frage ist nur, ob sie in Zukunft zum Kundenkreis gerechnet werden, den zu bedienen es sich haushalts- und wahlpolitisch lohnt. Oder ob sie schlicht zum Experimentierfeld für neue, öffentlichkeitswirksame Polizeistrategien wie die Abriegelung ganzer Wohnblocks, degradiert werden, was dann der eigentlichen Kundschaft der überwiegend zahlungskräftigeren und hellhäutigeren Bürger ein Gefühl erhöhter Sicherheit vermitteln soll.
Zur Legitimation der zweiten Option kommen asiatische Vorbilder dann gerade recht. Es paßt durchaus in die ordnungspolitische Landschaft, daß Lee Kuan Yew, Singapurs Gründerpräsident und starker Mann, vor kurzem vom konservativen „Nixon Center“ unter dem Beifall des heutigen Verteidigungsministers William Cohen und des ehemaligen Außenministers Henry Kissinger mit dem Preis für den „Architekten des nächsten Jahrhunderts“ ausgezeichnet wurde.
Was den Cohens und Kissingers an Lee Kuan Yew so gut gefällt, ist eben dessen ungenierte Verachtung für westlichen liberalen Firlefanz, wie den Schutz vor Prügelstrafe, bei gleichzeitiger Huldigung polizeistaatliche Methoden, freier Marktwirtschaft und peinlich sauberer Straßen.
Auf daß das nächste Jahrhundert so nicht aussehen wird, wollen wir jetzt in aller Öffentlichkeit einen heben – auch und gerade mit all jenen Polizisten, die sich nicht einreden lassen, daß ihr Job etwas mit Müllbeseitigung zu tun hat. Andrea Böhm
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