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Nicht die Mir-Technik versagte, sondern die Crew

■ Die Mir sei noch „nicht schrottreif“, so der deutsche Astronaut Ulrich Walter. Ein Ende der Mir sei auch ein Rückschlag für die Internationale Raumstation

Berlin (taz) – „Wassili, ich bestehe darauf, daß du zur Ruhe kommst“, redete gestern der leitende Arzt Igor Gontscharow per Funk auf den Mir-Kommandanten Ziblijew ein. Seit drei Wochen steht die Crew unter Streß. Ulrich Walter, Astronaut der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR), war selbst schon auf einer Raumstation und kann sich in die Crew hineinversetzen: „Der Kommandant hat das Andocken versiebt, und das zog einen Rattenschwanz von Problemen nach sich – das geht natürlich an die Psyche, so daß er Herzrhythmusstörungen bekam.“

Dann die vielen Reparaturen. Die Kosmonauten müssen sich ständig vom Boden neue Handgriffe erklären lassen. „Im Weltraum dauert wegen der Schwerelosigkeit jede Bewegung sehr viel länger“, erklärt Walter. Doch die Bodenstationen hätten kein Gefühl dafür und hetzten. Schließlich sollte der Nasa-Astronaut Foale für die Reparatur der leckgeschlagenen Außenhülle einspringen. beim Üben zieht die Crew den falschen Stecker – alle Systeme tot. „Man stelle sich die Situation vor: Die drehen fast durch“, erzählt Walter, „müssen im Dunkeln zur Rettungskapsel kriechen, um nach unten funken zu können, da schreit sie der Chef von unten an: ,Was für ein Kinderladen!‘“ Kein Wunder, daß die Crew angeschlagen sei. Es sei daher richtig, die Reparatur der Ablösung zu überlassen. Das erwägt nun der Leiter der Bodenkontrolle, Wladimir Solowjow – kommende Woche fällt die endgültige Entscheidung. Trotz der Pannen gibt es für Walter keinen Anlaß, die Mir aufzugeben: „Sie ist nicht schrottreif“, beide Pannen „waren Astronautenfehler“. Insofern sei der Druck der US-Medien, keine Astronauten mehr zur Mir zu schicken, völlig unbegründet. „Es kann durchaus sein, daß Foale den falschen Stecker gezogen hat.“

Die Mir ist von großer Bedeutung für die Internationale Raumstation (ISS), die die USA zusammen mit Rußland, Japan, Europa und Kanada ab Dezember 1998 im All bauen wollen. Das Projekt ist in drei Phasen unterteilt: Phase A läuft derzeit auf der Mir, wo Amerikaner seit eineinhalb Jahren Erfahrungen für die ISS sammeln. Die Amerikaner sind Walter zufolge noch viel zu unflexibel und bürokratisch, um eine Raumstation betreiben zu können. „Bei der Nasa können sie nicht sagen, ich brauche mal eine Kneifzange auf die Station“, so der DLR-Astronaut. „Da braucht man schriftliche Anträge, und die machen erst spezielle Tests.“ In puncto Improvisation und Reparaturen im Orbit müsse die Nasa noch viel von den Russen lernen. Seine Folgerung: „Wenn die Mir aufgegeben würde, wäre das auch ein Rückschlag für die ISS.“ Kein Wunder also, daß US-Präsident Clinton und die Nasa sich bislang mit Kritik zurückhielten. Matthias Urbach

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