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Im Innersten sind Deiche auf Sand gebaut

■ Von Anbeginn war der Erdhügel eher eine Kulturleistung aus Not denn eine Idee

Deiche sind langgezogene Erdhaufen. Unübersehbar und grasbewachsen ziehen sie sich durchs flache Land, brechen den Blick und steigern die Spannung: Durch die Wiesen geht der müßige Blick übers Bauernland; zum Wasser aber geht die Sehnsucht. Nichts hat die Kulturlandschaft Norddeutschlands tiefer geprägt als der Deich. Zwei Linienzüge, so erzählen die Legendenerzähler am Nordseestrand, rührten die Männer vom Mond anno 67, als sie den grünen Planeten als den ihren wiedererkannten: die chinesische Mauer und der Deich vor dem blanken Hans.

Schriftzüge, die im Unbelebten von menschlicher Gegenwart zeugten. Von Flandern bis Jütland und weitverästelt ins Land zieht sich „der goldene Reif“ entlang der See und der Flüsse, ein Bauwerk, 900 Jahre alt, trutzt er recht und schlecht den Sturmfluten und wurde kaum verändert. Im Innersten ist er auf Sand gebaut. Für die Wasserfestigkeit sorgen Kleischichten von zwei Meter Dicke, gewonnen im lehmigen Marschboden der einst dem Meer abgerungenen Polder. Nicht dicker als zwei Meter dürfen sie sein, sonst reißen sie. Obenauf Grassoden für die Festigkeit. So baute man. Meter für Meter. Und wenn dann das Wasser kam, baute man im Jahr darauf einen halben Meter drauf – bis zur nächsten Katastrophe.

So war das vor 500 Jahren. Und ist heute nicht anders. Der Deich nämlich ist keine „Erfindung“. Sagt Rainer Suckau. Der ist Ingenieur beim Bremischen Deichverband. Zweimal im Jahr geht Rainer Suckau mit einem Troß von Spezialisten über 64 Meter Deich links der Weser, guckt sich die Grassoden an und sagt: „Menschen haben auch ihre Grenzen.“ Und das Hochwasser an der Oder, das sei nicht menschengemacht. „Das ist ein meteorologisches Ereignis – vielleicht die größte Hochwasserkatastrophe in der Region seit 300 Jahren. Das wird nicht gutgehen. Das“, sagt Rainer Suckau, „hält kein Deich aus.“

Von Anbeginn war der Erdhügel eher eine Kulturleistung aus Not denn eine Idee. Die wurde mit den Jahren ein bißchen modifiziert, aber eigentlich sieht sie heute noch aus wie früher. Wahrzeichen für einen beharrlichen Anpassungswillen. Am Anfang standen die Warften: Bauerngehöfte auf kleinen Anhöhen im Land hinter dem Wasser, jährlich mehrmals umspült vom fruchtigen Schlick. Als das Wasser mit den Jahrhunderten stieg, stiegen auch die Warften. Bis man sich entschloß, ums Gehöft einen Wall zu bauen.

Die ersten Deiche entstanden und damit die neuen Probleme. Hinter den bald schon überspülten Wällen faulte das Wasser und kam nicht zurück ins Meer. Abflüsse mit ausgehöhlten Baumstämmen wurden improvisiert; der Deich brauchte Löcher. Auch das ist eine Geschichte der Deiche: eine Geschichte ihrer zwangsläufigen Durchbrüche. Es ist die Geschichte der Umweltschützer. Die von Gerold Janssen zum Beispiel. Ein paar Kilometer von Rainer Suckau entfernt sitzt der 74jährige am anderen Ufer der Weser. Fünf Jahre war er hier Deichhauptmann und weiß die Lösung für das Oderbruch. „Natürlich kann man denen was empfehlen“, sagt er und breitet die Arme aus: „Wir haben das Oderbruch in unseren Besitz genommen, man muß es nun für den Fluß wieder öffnen.“ Und er erzählt von der „Katastrophe“ im Hollerland, wo die Holländer im 12. Jahrhundert das Moor in der Marsch trockenlegten. Wie sie es mit Gräben durchzogen und – mit den Jahrhunderten – einem festen Deich hin zur Wümme bauten.

Doch lange freute sich Bremen nicht an den wogenden Weizenfeldern vor seinen Toren; im trockengelegten Hollerland wurde das Wasser sauer – und heute ist im Schutze des Wümme-Deichs nur noch Milchwirtschaft möglich. Seitdem baut man verstärkt Schöpfwerke an den Deichen, zur Wasserregulierung. „Sollbruchstellen“, ist deshalb Gerold Janssens Ratschlag an das Oderbruch: Sollbruchstellen in den Deichen. „Wir müssen etwas von unserem Besitz preisgeben, bevor es zur Katastrophe kommt.“ Der alte Deichhauptmann muß aufpassen mit seinen Vorschlägen. Die Zeiten sind solange nicht her, daß solche Ideen drastische Strafen nach sich zogen. Aus Stade berichten die Chronisten von einem Bauern, der stach in seiner großen Not bei seinem Nachbarn mal kurz den Deich an, bevor das Wasser bei ihm rüberschwappte. Man hackte ihm beide Hände ab. Mit den alten Zweckgemeinschaften vor dem blanken Hans ist nicht zu spaßen. Die Siedler im Stedingerland zwischen den Fronten von stetem Weser-Wasser und erzherzoglicher Raubgier bildeten Solidarverbünde auf Gedeih und Verderb. Das Spatengesetz galt, wie überall am Nordseedeich. Vor dem Deich war jeder gleich. Die Bauern bildeten Genossenschaften; für den Deich stand jeder, entsprechend der Größe seiner Ländereien, mit Haus und Hof als Pfand ein. Wer das nicht konnte, stach seinen Spaten in den Deich und zog mit Frau und Kind von dannen. Den Spaten holte sich der Nachbar – und mit ihm Haus und Hof. Kollektiver Zwang als Ersatz für technische Vollkommenheit – das war über die Jahrhunderte die Lösung. Noch heute. Die ostfriesischen Deichverbände funktionieren nolens volens nach dem Genossenschaftsprinzip. Als Gesellschaften öffentlichen Rechts mit Deichgraf, -hauptmann, oder -richter an der Spitze. Straff organisiert: ein kleiner Staat in Deutschlands kleinstem Bundesland. Alle Grundstückseigentümer sind Genossenschafter, vom Häuslebauer bis zur Wohnungsbaugesellschaft Gewoba, jeder mit einer Stimme. Sie zahlen je nach Grundstücksgröße zwischen 60 und 10.000 Mark. Nur den Spaten, den sticht hier keiner mehr in'n Deich. Fritz v. Klinggräff

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