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■ StandbildArg sozialpädagogisch

„Gehversuche“, Montag, 0.20 Uhr, Kanal 4 (Sat.1)

Holla, das ist aber mal eine peppige Dokumentation! Zahlreiche Beats per minute untermalen eine hart geschnittene S-Bahn-Fahrt, im Zeitraffer rasen Autos über den Bildschirm, ein junger Mann vom Typ derer, die einen immer so grimmig anschauen, streckt die Zunge in die Kamera. Über zwei Jahre hinweg haben die Autoren Stefan Muffat und Gerd Vanselow immer wieder die jungen Männer „Dossi“, Stefan und Peter besucht und über ihre Gegenwart und Zukunftspläne befragt. Alle drei sind in dem Fürther Kinderheim St. Michael aufgewachsen, stammen aus kaputten Familien, werden gleichzeitig in die Selbständigkeit entlassen. „Gehversuche“ beobachtet sie dabei.

Der erste Kandidat ist „Dossi“. Er, so vermittelt uns der Kommentar, kommt mit der Freiheit zunächst am schlechtesten zurecht: Seine Freundin habe ihn verlassen, er trinke, nehme Tabletten und komme in der neuen Wohnung nicht klar, „aber er spricht nicht darüber“. Arg sozialpädagogisch erheben sich die Autoren immer wieder über ihr Objekt „Dossi“, geben Dinge von ihm preis, die er selber lieber verschwiegen hätte. Beim letzten Besuch des Filmteams berichtet „Dossi“, daß es ihm recht gut gehe. Der Kommentar kann es sich aber wieder nicht verkneifen: „Worüber Dossi nicht spricht: er ist arbeitslos geworden.“ Die angestrebte Selbständigkeit, zu der auch gehört, über sein Leben selbst zu berichten, wird ihm durch diese Off- Texte immer wieder aberkannt.

Peter dagegen darf seine Geschichte selbst erzählen, obwohl auch diese natürlich Lücken aufweist. Auch Stefan, der dritte Mann, strauchelt noch ein wenig. Eine Elektrikerlehre hat er abgebrochen, jetzt macht er eine Ausbildung zum Koch, hängt gerne mit den Punks am Bahnhof herum. Während vergleichbares Verhalten „Dossi“ implizit als Labilität ausgelegt wird, werden Stefans Anpassungsschwierigkeiten als unbedingter Wille zur Freiheit interpretiert. Warum? „Ihre Antworten bleiben vorläufig“, tönt der Kommentar am Schluß über die jungen Männer. Ein noch flacheres Fazit hätten Muffat und Vanselow kaum texten können. Und plötzlich wirken die schnellen Schnitte der Zwischenclips gar nicht mehr modern, sondern nur noch wie Füllmaterial, das eine wirkliche Auseinandersetzung mit „Dossi“, Peter und Stefan ersetzen soll. Krücken für die „Gehversuche“. Stefan Kuzmany

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