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Sonntagsfernsehen

Die mediale Rekonstruktion des deutschen Familientags  ■ Von Georg Seeßlen

Das Fernsehen, sagt man, beschleunigt die Bilder, verwandelt die Abfolge mehr oder minder aussagekräftiger Bilder in einen „ewiglaufenden Fernsehfilm“. Fernsehen ist irgendwie immer und überall, vor, nach, während oder statt der Liebe, um zwei Uhr nachts im Hotelzimmer, überall, wo sich das Leben erschöpft, und das tut es ziemlich häufig. Fernsehen, das wußten wir aus klugen Büchern in den siebziger Jahren, verweigert dem Tag die Struktur. Und je mehr Programme es gibt, desto beschleunigter und strukturloser wird der Sturm der immergleichen Bilder. Zapp!

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte kommt derzeit als erste Welle der Fernseh- Nostalgie über uns, nicht nur, was den Video- und Buchmarkt oder die Kneipengespräche anbelangt. Weißt du noch, damals? Als „Am Fuß der blauen Berge“ lief? „Maxwell Smart“, „Raumschiff Orion“. Später kam „Star Trek“, und heute gibt es „Akte X“. Aber nicht nur an die Serien und Events der Glotze beginnt man sich liebevoll zu erinnern, sondern mehr noch an die Rituale und Abläufe. Wer seine Fernseherinnerungen auspackt, behandelt in der Regel sogleich auch seinen Familienroman. Damals hatten wir noch keinen Fernseher und trafen uns alle bei einer Freundin...

Bei der „Tagesschau“ mußten alle leise sein. Über dem Fernsehapparat brannte eine Lampe, wegen der schädlichen Strahlen und damit man sich nicht die Augen verdarb. Das gab der Sache noch mehr Altar-Charakter. Fernsehen gab es erst nach den Hausaufgaben. Schau' lieber was besseres an, Bernhard Grzimek, Willy Millowitsch, „Learning english“. Und später dann der Ärger mit „Notizen aus der Provinz“. Damals erwachte politisches Bewußtsein und übrigens Ablehnung des Fernsehens.

In der Perspektive von Biographie und Nostalgie zerbröselt die Phantasie von der Entstrukturierung und Beschleunigung. In Wahrheit sorgte Fernsehen für die Identität der bekanntlich gleich langen aber verschieden breiten Tage, in Wahrheit verhinderte Fernsehen unerträgliche Geschwindigkeit in den unerträglichen sozialen Beziehungen. Damals. Und vollkommen hat sich das auch nicht geändert in der Epoche der Entwertung, der Unübersichtlichkeit, des Fernbedienungsfernsehens.

Eine Besonderheit war und ist das Fernsehen am Sonntag. Dazu muß man wissen, daß der Sonntag, was jenseits der deutschen Sprachgrenzen so ohne weiteres nicht nachvollziehbar sein mag, ein sonderbares nationales Heiligtum ist. Wir wissen wie langweilig ein englischer Sonntagnachmittag sein und wie ein italienischer den Verdauungsapparat überfordern kann. Aber ein deutscher Sonntag ist etwas ganz anderes, eine Art wöchentliches Weihnachten, in dem die Familie, soweit es geht, sich noch einmal eine Struktur zu geben versucht. Und ein schrecklicher Tag, weil sich das immer weniger erfüllt. Ein bißchen Heiligkeit und Ehrfürchtigkeit durchglänzte diesen Tag, weshalb es früher im Fernsehen am Sonntag auch einen Gottesdienst, aber keine Werbung gab.

Das Programm der öffentlich- rechtlichen Sender ist immer noch so strukturiert, daß es der deutschen Fernsehfamilie den Sonntag nicht verdirbt, auch wenn diese Familie nur noch in den Köpfen sehr einzelner Menschen existieren mag. Es unterscheidet sich vom normalen Tagesprogramm sehr deutlich: Es ist strukturierter als gewohnt und möchte einen geregelten Tagesablauf bestimmen. Die ARD gehört von sechs bis zehn Uhr morgens den Kindern. Gewaltfreies von „Barbapapa“ bis zum „Tigerentenclub“. Zur gleichen Zeit versorgt das ZDF eher Oma und Opa mit Soap-opera, „Klassik am Morgen“ (was wir uns nicht allzu anstrengend vorstellen dürfen) und dem obligaten Gottesdienst.

Um zehn Uhr dann eine jener Endlosshows mit den schönen Erinnerungen, bei denen dann die ganze Familie, zumindest mit halber Aufmerksamkeit, teilhaben kann, und zwar auf beiden Programmen (wie es überhaupt am Sonntag mediale Knotenpunkte gibt, an denen in beinahe allen Kanälen das mehr oder weniger Gleiche läuft). So „Immer wieder sonntags“ in der ARD mit Max Schautzer, der „Fernsehgarten“ im ZDF mit Ramona Leiß. Diese eigenwilligen Eintopfsendungen mit der Tendenz, sich ins Endlose zu dehnen, jede dramaturgische Konstruktion zu vermeiden, allen Anmutungen von gutem Geschmack abhold zu sein und der deutschen Sprache jeden erdenklichen Tort anzutun, sind vielleicht das Herzstück des deutschen Sonntagsfernsehens. Sie entschleunigen das Leben auf eine geradezu beängstigende Weise. Die Zeit scheint in jeder Hinsicht stehengeblieben. Man ist, nicht nur was das Aufgebot der Stars anbelangt, immer zugleich in den fünfziger und in den neunziger Jahren, man ist zugleich kindisch, pubertär, karrieregeil, rentnerselig und total verkalkt, man spricht die Omas und die Enkel an, die Männer und die Frauen, Kleingärtner und Karnevalisten.

Das Ganze ist das mediale Imitat eines „Sonntagsausfluges“ oder wenigstens einer kleinen Feier im Garten, niemand ist ausgeschlossen, aber jeder muß sich „benehmen“. Glücklicherweise benimmt sich immer irgendwer daneben oder verbrennt sich wenigstens die Finger am Grill. Es ist stinklangweilig, eine Versammlung von Menschen mit hohem Unausstehlichkeitsgrad, aber eben auch wunderbar behäbig, sinn- und folgenlos; im schläfrigen Blick verwandeln sich stinknormale Langweiler in die Bewohner und Bewohnerinnen von Alices Wunderland.

Und auch im Anschluß an die Fernsehgärten geht nicht etwa das Programm stinklangweilig weiter, die Stinklangweiligkeit ist vielmehr Programm. Wenn Muttern mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beginnt, bekommen die Kinder noch mal mit der „Sendung mit der Maus“ etwas pädagogisch Wertvolles, und nach dem Essen geht es hinaus in die unendlich suggestive Welt: in „Weltreisen“ zum Beispiel nach Madrid, Paris oder Asien, aber gleich anschließend kommen wir zurück zum „Bilderbuch Deutschland“. Letzten Sonntag: „Der Ostharz“. Morgen: „Der Oberrhein“. Dann kann man sich entscheiden, ob man sich lieber in der ARD beim „Ratgeber: Geld“ Wissenswertes in der Zweidrittelgesellschaft oder im ZDF Historisches in „Damals“ reinzieht (was vielversprechend sein kann, geht es dort auch schon mal um den „Kampf der Diven“ zwischen Gina Lollobrigida und Sophia Loren: ja, damals!).

Nach dem Abwasch gibt es immer einen „schönen alten deutschen Spielfilm“, vielleicht „Wenn Mädchen ins Manöver ziehen“ oder „Die Kaiserin von China“ mit Grete Weiser. Dann Tierserien und Sport. Bis zur „Lindenstraße“. Bei der „Lindenstraße“ versammelt sich die deutsche Familie am Sonntag oft wirklich. Welche Frau könnte nun ins Nachbarprogramm zum „Frauenjournal Mona Lisa“ umschalten? Schließlich haben wir gerade die erste Folge einer dreiteiligen Reihe über „Wechseljahre“ angesehen, Untertitel „Frauen in ihrer Lebensmitte“, um den Anfang der „Sportschau“ nicht zu verpassen. Und überhaupt, weil auch das zu den Dingen gehört, die man ruhig vom Leben wissen kann. Dann gibt es Abendbrot, und ab 20.15 Uhr die große Sonntagabendunterhaltung, die, im Gegensatz zur großen deutschen Samstagabendschau nichts von einer Krise bemerken läßt. (Samstags ist überhaupt der Katastrophentag, und der deutsche Sonntag wäre nicht, was er ist, wenn er nicht auch als Heilmittel für den Tag zuvor diente.) Wir haben die Wahl zwischen einem neuen „Tatort“ oder „Polizeiruf“ und den „Höhepunkten aus ,Lustige Musikanten‘“ oder dem „Traumschiff“. Während das ZDF noch eine Comedyserie nachschiebt, wird die ARD für den Rest des Abends wieder ziemlich kulturell unter anderem mit dem „Kulturreport“ und den „Klassikern des Kabaretts“.

Sonntags suchen die Dritten Programme nur sehr bedingt nach einer Programmnische, sie imitieren vielmehr die beiden anderen Programme mit preiswerten Ausgaben derselben Programmangebote, wir bekommen zum Beispiel einen „Evangelischen Gottesdienst“, dann geht's zum Konzert auf die „Kurpromenade Bad Seebruch“. Auch die Privaten organisieren ihr Sonntagsprogramm nicht viel anders, nur eben etwas verschärft. Auch im RTL gibt's von 5.35 Uhr ab Kinderprogramm. Aber eben etwas heftigere Kost und Disney satt. Sat.1 setzt schon von acht Uhr morgens auf Science- fiction, Western und Abenteuer und unterbricht das erst abends um 18 Uhr mit einem Magazin und um zehn Uhr noch einmal mit einem Block von Erich Böhmes „Talk im Turm“ und „Reportagen“. RTL 2 und Pro 7 haben mehr oder weniger dieselbe Struktur, nur weniger Unterbrechungen. Super RTL bleibt gleich auf der volkstümlichen Schiene. Und nur wenn wir lange aufbleiben, können wir bei Vox vielleicht noch ein paar Titten gucken in „Wa(h)re Liebe“ oder „Emmanuelle VI“. Dann ist der Sonntag aber wirklich vorbei.

Die entschleunigten Bilder des deutschen Sonntagsprogramms machen das Fernsehen an diesem Tag zu einem sonderbaren Lebensraum zwischen provinzieller Regression auf „unsere Familie“, „unseren Garten“ „unser Deutschland“ und touristischer Weltsucht, und das Atmen zwischen diesen beiden deutschen Aggregatzuständen scheint sich im Rhythmus der Mahlzeiten zu vollziehen: die Weltsehnsucht, Expeditionen in Tierreiche und Börsenspekulationen vorher, zufriedener Rückzug aufs Volkstümliche und Idyllische danach.

Genauer gesagt imitiert dieses Programm in seiner Dramaturgie einen deutschen Familiensonntag: Die Kinder sollen brav spielen, während Vater und Mutter noch, öh, etwas im Bett bleiben, dann folgt das schöne Frühstück im Kreis der Familie, bei schönem Wetter im Garten. Jetzt kommt der Gottesdienst und irgendwas anderes Feierliches, wo man andächtig guckt und etwas Gediegenes anzieht. Vor dem Essen könnt ihr es euch schon wieder etwas gemütlicher machen. Dann ein schöner Spaziergang und anschließend, warum denn nicht, der Besuch in einem Restaurant, Kaffee und Kuchen, auch ein Bier oder, öh, zwei, man wird richtig lustig dabei. Am Nachmittag sitzt man beisammen, man liest ein gutes Buch, oder „Reader's Digest“, heute gibt es keine Bild-Zeitung. Auch Sport könnte den Nachmittag verschönen, oder der Besuch in einem Museum, im Zoo, im Schloß. Und nach dem Abendessen machen wir es uns so richtig gemütlich, es kommt etwas, auf das wir uns schon lange gefreut haben, mit schöner Regelmäßigkeit.

Die Vielzahl der Programme am Sonntag ändert offensichtlich nicht das geringste an der Zusammensetzung dieses virtuellen Familientages, der auch alle Reaktionen auf die Welt enthält, die man sich an diesem Tag leistet, von der Bußfertigkeit über die üble Nachrede, vom bescheidenen Glück (Ach Gott, bei uns ist es doch auch sehr schön) über das Bildungserlebnis und das Wissen um die grausam große Natur (die Löwenmutter frißt ihr totes Junges, während in Las Vegas die Selbstmordrate steigt) bis schließlich zum fröhlichen Vereinsleben oder Theater am Abend. Und nach zehn, man hat vielleicht ein bißchen getrunken, unterhält man sich schon auch einmal über heiklere Themen wie „Alte Schachtel – reifer Mann – auf ewig zweierlei Maß“, und wenn es sein muß, kann man via Talkshow auch noch einen sonntäglichen Familienkrach imitieren. Besser ist es natürlich, man zieht über andere her oder treibt einen Gast durch gezielte Beleidigungen aus dem Haus.

„Programmvielfalt“ heißt: Man kann sich diese Zutaten in bedingt beliebiger Reihenfolge abrufen, am Sonntag muß man es nicht so genau nehmen. Aber wie man sein Dutzend Programme auch zusammenzappt, es bleibt am Ende doch immer dasselbe. Die Fernsehausgabe der „Gartenlaube“. Ein Sonntag, in dessen kleinem Glück das große Unglück verborgen bleibt, an dessen Ende man ein bißchen leer und tot ist. Morgen ist wieder Werktag. Morgen geht wieder alles schleuniger zu.

Der deutsche Sonntag, der eben nicht nur stinklangweilig ist, sondern immer auch die Familie zumindest symbolisch rekonstruiert, findet in seinem medialen Double zu einer erstaunlich starren Form. Und weniger in den einzelnen Elementen als in ihrer Montage erweist er sich auch als boshafter als es in seiner entschleunigten und idyllischen Inszenierung erscheint.

Dieses Fernsehprogramm „weiß“, wann es die Familie zusammenführen soll, wann es die Mutter in die Küche, die Kinder in den Garten, den Vater aufs Kanapee schicken muß. Dieses Sonntagsprogramm spricht unentwegt und hinter einer Fassade von Bildung und Volkstümlichkeit verborgen in Metaphern über eine Welt, in der alles seinen Platz hat und Stabilität das erste Bürgerglück ist. Stabilität, in der alles, was man verloren hat, im Fernsehen aufgehoben ist. Spaßkultur statt Unzufriedenheit; das furchtbarste, was von diesem Sonntagsprogramm ausgeht, ist der Zwang zur Fröhlichkeit, die unbarmherzige Ächtung von allem und jedem, das den Sonntagsfrieden stören könnte. Es ist nicht ein Programm, das etwas verschweigt, das Verschweigen ist das Programm. Und es triumphiert über die chaotischen und widersprüchlichen Erscheinungen der Welt, wird zum großen virtuellen Ordnungsstifter.

Am Sonntag ist das Fernsehprogramm auf eine beinahe hemmungslose Weise deutsch. Neben der Familie träumt es vor allem von der Heimat, es liefert Natur und Geselligkeit in netter Form, aber es spricht dabei immer auch von etwas anderem, vom Phantasma der „nationalen Identität“. Nach einem Sonntag Fernsehen hat man die eigentliche Geborgenheit in einem sonderbaren Gefühl gefunden: Deutschsein als Zustand, der den Festzug – „live!“ – zum 1.200jährigen Jubliäum der Städte Trossingen und Tuttlingen, „Wir Deutschen“ („Heute: Die Stauffer“) und Gottesdienst aus Thiersheim mit Kriminalkommissaren in Dresden und Peter Steiners Misthaufen-Phantasien verbindet.

Was mir schmerzhaft auffällt in dieser Melange der deutschen Regressionen führt wieder in ein Stück Fernsehnostalgie. Es fehlt „Werner Höfers Internationaler Frühschoppen“, für den nie wirklicher Ersatz gefunden wurde. Dieser „Frühschoppen“ war eine sonntägliche Utopie von Weltläufigkeit (bei dem echte Journalisten um 12 Uhr sonntags echten Wein tranken), von etwas, was man heute wohl „Diskursethik“ nennen mag, ein Vorschlag dazu, wie man Ritual und Demokratie miteinander verknüpfen könnte. Das war das mediale Imitat eines anderen Sonntagsvergnügens, der Lektüre politischer Zeitschriften und Zeitungen. Damals konnte man auch in Deutschland davon träumen, daß es von Bedeutung sei, eine Meinung zu haben. Und davon, daß auch das zweite Biedermeier nicht „lustige Musikanten“ allein hätte bedeuten müssen.

Aber natürlich sprechen wir uns in zehn Jahren wieder, bei der nächsten Welle von Fernsehnostalgie. Weißt du noch, damals kriegte man sonntags noch Sportübertragungen ohne Extrabezahlung. Boah, und es gab einen ganzen Vormittag Cartoons. Und wenn du's wolltest, konntest du dir um 23.15 Uhr zum Beispiel einen Film anschauen, der die Nazi-Vergangenheit der Dresdner Bank untersuchte. Und „Akte X“ – gib' doch zu, daß du kaum eine Folge verpaßt hast.

Meine Rettung für das Sonntragsprogramm kommt aus Österreich. Der ORF sendet den passenden Film. Er heißt „Verschollen im Zeitloch“. Treffender kann man die Stimmung nach einem deutschen Fernsehsonntag nicht beschreiben.

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