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Ein Golfschläger für Haneke

Er tut uns nur weh, weil er uns liebt: In „Funny Games“ geißelt Michael Haneke den Zuschauer in voller Spielfilmlänge. Es ist doch bloß Sadismus aus moralischer Überlegenheit. Schon möglich: Aber nicht mit uns!  ■ Von Anja Seeliger

Michael Hanekes Film „Funny Games“ dauert 103 Minuten. So lange braucht es, bis zwei adrett in Weiß gekleidete junge Männer eine Familie massakriert haben. Damit beim Zuschauer gar nicht erst Illusionen aufkommen, wendet sich einer der beiden nach knapp 15 Minuten direkt an uns: „Wetten, daß morgen früh um neun Uhr alle tot sind?“ Bei der Uraufführung in Cannes verließen Kritiker scharenweise mit grauen Gesichtern den Vorführraum.

„Funny Games“, sagt Haneke, soll mit der Lüge aufräumen, daß Gewalt konsumierbar sei. Klassenziel erreicht. Trotzdem möchte man gerade in diesem Film mittendrin aufstehen und Big Daddys („Die Katze auf dem heißen Blechdach“) unsterbliche Worte in den Zuschauerraum brüllen: „Riecht ihr nicht auch den ekelhaften Gestank der Lüge?“

„Das Kind ist blind, die Mama zieht sich aus geschwind“, sagt der junge Mann freundlich. Das Kind, dem er einen Sofakissenbezug über den Kopf gestülpt hat, hält er im Arm. Als Mama nicht gleich spurt, macht er eine Bewegung, daß das Kind laut schreit. Der Vater knickt zuerst ein: „Bitte zieh dich aus mein Schatz.“ Beim ersten Mal sagt er es nicht laut genug. Das Kind schreit auf, er wiederholt den Satz. Mama zieht sich aus. Die Kamera ist fest auf ihr Gesicht gerichtet. Wir hören den Reißverschluß, das Klicken des BHs – und dann hält man den Atem an. Um ihren Slip auszuziehen, muß sie sich bücken, die Kamera mit, schwankt, wird er... nein. Wir sehen nur ihr Gesicht. Der Körper bleibt gerade eben noch unsichtbar. Wir hören, wie die Frau ihre Nylonstrumpfhose und den Slip abstreift. Dann richtet sie sich auf und steht still. „Na also, keine Fettpölsterchen.“ Im Blick des jungen Mannes liegt nicht die Spur von Erregung.

Fünfmal wendet sich in diesem Film einer der Mörder direkt an den Zuschauer und sagt sinngemäß: „Das willst du doch, oder? In voller Spielfilmlänge, stimmts?“ Wir müssen uns diese Quälerei nicht nur angucken, wir sollen auch noch schuld daran sein. Haneke hat geradezu phantastische Ähnlichkeit mit dem Bischof aus Ingmar Bergmanns „Fanny und Alexander“. Wie dieser ist er fest davon überzeugt, uns bestrafen zu dürfen, „denn die Wahrheit und die Gerechtigkeit ist auf meiner Seite“.

Die Wahrheit ist laut Haneke, daß das Publikum zwischen echter und inszenierter Gewalt nicht mehr unterscheiden kann. Mit der Folge, daß es das Schmerzliche der realen Gewalt nicht mehr erkennt. Um diesem Irrtum abzuhelfen, zeigt er fast nie die Gewalt selbst, sondern das Leiden, das darauf folgt. Bis man schreiend aus dem Kino laufen möchte.

Aber wir Ekdahls lieben unsere Illusionen. Wir werden sie kaum eintauschen für die Wahrheit eines selbstgerechten Philisters, der den Zuschauer so lange einkreist, bis ihm wie Alexander nur noch die Wahl bleibt zwischen Rizinusöl, Rohrstock und Karzer. Wäre nur unsere Erziehung der Grund für dieses Massaker, könnte man den Film als lächerliche Anmaßung abtun. Aber eben Hanekes Behauptung, das geschehe alles nur für uns, ist eine Lüge. Wo doch unübersehbar ist, welche Erleichterung es für ihn war, endlich der Familie – und das sind wir, das Publikum – den Garaus zu machen.

Vor „Funny Games“ hat Haneke drei Spielfilme über die „Vergletscherung der Gefühle“ gedreht. In „Der siebte Kontinent“ führt eine Familie – die Eltern heißen übrigens genau wie in „Funny Games“ Anna und Georg – ein derart entfremdetes kaltes Leben, daß sie es schließlich selbst nicht mehr aushalten und sich und ihre Tochter umbringen. Immer wieder zeigt Haneke, wie der Frühstückstisch gedeckt wird, der Mann seine Aktentasche packt, das Kind sich die Zähne putzt. Wenn sie einkaufen, filmt Haneke minutiös bis zum letzten Milky Way die Vorräte und das Eintippen des Kaufpreises. Keine Emotionen, keine Gesprächsthemen nirgendwo.

„Bennys Video“ erzählt die Geschichte eines Jungen, der den ganzen Tag zu Hause sitzt und Videos guckt. Ein Schwein, das durch einen Bolzenschuß getötet wird, steht wieder auf, sobald man das Video zurückspult. Das Mädchen, das Benny eines Tages zu Hause tötet, wird dagegen nie wieder aufstehen. Als die Eltern die Leiche entdecken, gibt es keinen Aufstand, kein Fragen: warum, wieso. Sie reagieren wie Roboter: Hat euch auch niemand zusammen gesehen? ist die einzige Frage, die den Vater interessiert. Während er die Leiche beseitigt, fahren Mutter und Sohn nach Ägypten. „Gefällt's dir hier?“ fragt die Mutter. „Geht so“, antwortet der Sohn.

Familien sind in Hanekes Filmen ausdruckslos, unfähig zur Kommunikation, unfähig zu einem echten Gefühl. Und natürlich läuft immer der Fernseher. Zu Beginn von „Funny Games“ sieht man die Familie im Auto zu ihrem Ferienhaus am See fahren. Während der Fahrt spielen die Eltern Opernraten. „Hat der Papa geschaut?“ fragt die Mutter, „Nein? Soll ich das glauben?“ Eine halbe Minute schmettert die Stimme von Tebaldi durch die Lautsprecher. Dann sagt der Vater: „Nein, ich habe nicht geschaut.“ Im Ferienhaus angekommen, packen sie ihre Lebensmittel aus.

Wie immer zeigt Haneke diesen Vorgang über Minuten in allen Details. Bis schließlich selbst in der Unschuld solcher Handlungen etwas Steriles, Dummes, Undurchdachtes liegt: Als wäre das Auspacken von Lebensmitteln das Wichtigste in ihrem Leben. Menschlich wird diese Familie erst kurze Zeit später – durch ihre Fähigkeit zu leiden. Haneke zwingt uns, mit dieser Familie bis zu ihrem Tod mitzugehen, was mehr ist, als bloßes Mitleid. Warum aber fordert er das von uns ein, wenn er selbst so wenig Sympathie für diese Menschen hat?

Die zwei Mörder sind von anderem Kaliber. „Würdest du mir bitte etwas zu essen holen? Das wäre ganz lieb von dir“, sagt der eine zu dem Kind, kurz nachdem er dem Vater mit einem Golfschläger das Bein zerschmettert hat. Mit ihren guten Manieren und dem adretten Tennisdreß sind die beiden offensichtlich keine gebeutelten Sozialfälle. Vorsicht! In einer Szene fragt der Vater sie: „Warum tut ihr das?“ Und schon prasselt ein Schwall von Erklärungen über ihn herein – die einzige komische Szene in diesem Film: Drogenabhängig! Schwul! Von der Mutter vergewaltigt! Scheidungsopfer! Arm und von der elenden Jugend in einer Alkoholikerfamilie verhärtet! Reich und am Überdruß einer leeren Existenz leidend! Die zwei sind wie ein leeres Blatt Papier, in das der Zuschauer die Motive eintragen darf. Sind sie etwa gar das Produkt von zuviel Videokonsum? Haneke hält sich da raus. Zu viele Motive sind so gut wie gar keins. Wir haben hier zwei aufrechte, hartgesottene Sünder – und das soll etwas Schlechtes sein?

„Die Sünde ist ein wesentliches Element des Fortschritts. Ohne sie würde die Welt alt und farblos. Ihre Wißbegierde sorgt dafür, daß die Erfahrung des Menschengeschlechts zunimmt. Ihr ausgeprägter Individualismus schützt uns vor schablonenmäßiger Eintönigkeit“, schrieb Oscar Wilde. Ein besserer Beleg für diese These als „Funny Games“ muß erst noch erfunden werden. Schablonenmäßige Einförmigkeit ist eine exakte Beschreibung der Haneke-Familien, aber auch seiner Filme selbst. Erst die Mörder bringen etwas Leben in die Szene.

Formal ist dies ein brillanter Film. Gemessen an einem Hollywoodfilm sind Hanekes Mittel ein Witz. Wenn es draußen dunkel wird, wird es auch im Film dunkel, bis einer im Zimmer Licht macht. Es gibt keine interessanten Kamerabewegungen, keine brillanten schauspielerischen Leistungen, und was hier an Blut fließt, paßt in einen Sandkasteneimer. Haneke zeigt nicht, was die zwei jungen Männer ihren Opfern antun, er zeigt nur die Wirkung, die das hat. Wir sehen es in ihren Gesichtern, und wir hören es in ihren Schreien. Bei dem Mord an dem Kind sind wir nicht einmal im Zimmer. Wir beobachten einen der Halunken in der Küche beim Brot schmieren. „Soll ich jemandem was mitbringen?“ Päng.

Die Frau stirbt als letzte. Vorher versucht sie noch, mit einem Messer, das zu Beginn des Films in das Segelboot gefallen ist, ihre Fesseln aufzuschneiden. Es ist ein so lächerlich untauglicher Versuch, daß man fast Verachtung für sie empfindet. Gerade so wie für unsere eigene lächerliche Hoffnung, daß dieser letzte Mord vielleicht doch noch verhindert werden kann. Fest verschnürt und geknebelt wird sie beiläufig in den See geschnippst, als wäre sie ein wenig Zigarettenasche auf dem Jackett des Mörders.

„Du weißt, daß ich dich bestraft habe“, sagt Ingmar Bergmanns Bischof zu dem roh mißhandelten Alexander, „aus Liebe.“

Sadismus aus moralischer Überlegenheit – kann hier mal jemand das Fenster aufmachen?

„Funny Games“. Regie und Buch: Michael Haneke. Mit Susanne Lothar, Ulrich Mühe u.a., Österreich, 1997, 103 Min.

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