■ Für Ungarn ist der Beitritt zur Nato das kleinere Übel. Ein skeptisches Plädoyer für die Hinwendung zum Westen: Mit Risiken und Nebenwirkungen
Was spricht dagegen, daß Ungarn der Nato beitritt, was dafür? Es ist nicht leicht, darüber öffentlich zu reden, denn die Diskussion ist von einer Atmosphäre der Unaufrichtigkeit umfangen.
Wenn ein Militärbündnis von sich behauptet, sich gegen niemanden zu richten, dann erklärt es sich mit dieser Formulierung selbst für sinnlos. Was sollen wir von einem Puff halten, auf dessen Front geschrieben steht, daß dieses Institut an der gewerbsmäßigen Befriedigung sexueller Gelüste nicht interessiert sei? Die Alternativen müssen innerhalb des realen Kraftfeldes betrachtet werden, damit die unterschiedlichen Meinungen aufeinanderprallen können. Die Nato richtet sich – wie jedes beliebige Militärbündnis – gegen benennbare oder potentielle Gegner. Seit dem Zerfall der Sowjetunion muß mit benennbaren Gegnern nicht gerechnet zu werden, mit potentiellen dafür um so mehr. In Rußland (und einigen anderen Ex- Sowjetrepubliken) gedeiht der kommunistische und nationalistische Wahnwitz gleichzeitig mit einem aggressiven, mafiosen Wildwest-Kapitalismus, wobei sich beide Erscheinungsformen gegenseitig antreiben. Niemand kann garantieren, daß die in die Defensive gedrängte, kaum in der Tradition verankerte Demokratie dort die Oberhand gewinnen wird.
Es geht hier also nicht um die Frage, ob die Nato etwas Liebenswertes ist – denn sie ist nichts Liebenswertes –, sondern darum, ob sie ihren Mitgliedern Schutz zu gewähren vermag, falls alles schiefgeht und irgendeine Spielart der Sowjetunion oder des großrussischen Reichsgedankens – unberechenbarer als jeder frühere – ihre Wiederauferstehung feiert. Dabei ist zu berücksichtigen, daß selbst Stalin kein (späteres) Nato-Mitgliedsland angegriffen hat. Andererseits hat die Nato kein einziges nicht zur Nato gehörendes Land je vor sowjetischer Aggression geschützt. Vom ungarischen Standpunkt aus wäre noch hinzuzufügen, daß die Nato Schutz auch vor extremistischen mittel-osteuropäischen Nationalismen bietet, falls irgendeine ekelhafte Wende des Geschichtslaufes dies erforderlich machen würde.
Mein zweites Argument für die Nato-Mitgliedschaft bringe ich mit Bauchweh vor. Denn in konkreten Fragen leidet die Wahrheit darunter, daß sie langweilt, weil sie kaum variierbar ist. Kurz gesagt, wenn Ungarn der Nato beitritt, dann wird es ein Teil der euro-atlantischen Struktur, es gerät in ein psychologisches, zivilisatorisches und ökonomisches Netzwerk, über welches es seinen Weg aus den abgestandenen Gewässern des Partikularismus in den Mainstream finden könnte, wohin es kulturell schon immer strebte. Diese Erwartung bezieht sich ganz allgemein auf das Ensemble der euro-atlantischen Integration (Nato- und EU- Beitritt). Doch wir, die wir nicht vom Niveau Schwedens aus starten, brauchen jene politische Garantie, die die Mitgliedschaft in der Nato – jener universalen Wach- und Schließgesellschaft – dem ausländischen Investmentkapital nun einmal gewährt.
Freilich muß ich hier festhalten, daß ich die euro-atlantische Struktur in vielerlei Hinsicht für äußerst unsympathisch, ja perspektivisch für allgemeingefährlich halte, wenn es nicht gelingt, sie zwischendurch zu korrigieren. Diese Region als Wohlstandsinsel im Ozean des Elends zu behaupten, ist nicht nur moralisch nicht zu rechtfertigen, sondern auch aus praktischen Gründen nicht für alle Zeiten durchzuhalten. Die rasend wachsenden Ungleichheiten werden früher oder später unduldbar, wie auch die Geduld der Natur ihr Ende hat. Strategische Entscheidungen von existentieller Bedeutung wandern immer unverfrorener aus den Händen gewählter Regierungen in die Kompetenzen gesichtsloser Faktoten in multinationalen Unternehmen. Und trotzdem muß Ungarn diese Richtung einschlagen, will es seine Nabelschnur in die Zukunft nicht kappen. Unsere Alternativen erfinden wir nicht, wir finden sie fertig vor. Wir können nur hoffen, daß wir unterwegs auf neue stoßen. Doch dazu müssen wir nach vorne blicken, begeistert, ironisch oder skeptisch.
Die Antipathien gegenüber der Nato blubbern aus zwei Quellen. Das Widerstreben der Pazifisten sollten wir keinesfalls wegscheuchen wie eine lästige Fliege. Die Krankenschwestern und Kriegsinvaliden hassen die Militärblöcke mit Recht. Wohnt nicht im Innersten eines jeden sensiblen Mittel- Osteuropäers eine Krankenschwester und/oder ein Kriegsinvalide? In diesem Jahrhundert standen die Ungarn stets auf der Verliererseite. Selbst für den schönsten Augenblick in unserer neuzeitlichen Geschichte, die Verkündigung der Neutralität am 1. November 1956, wurden wir gnadenlos bestraft. Sich unter wilden Wolfsgesetzen nach Neutralität zu sehnen ist ein moralisch erhebendes Gefühl. Ich wäre glücklich, könnte ich mich ihm hingeben. Nur daß diese Neutralität heute in den Kategorien einer Nation erscheint, die Krähwinkel als ihren heiligen Wallfahrtsort erwählen würde.
Denn die zweite, fatalere Antriebskraft der Nato-Gegnerschaft ist kleinhirniger Nationalismus. An ihren eigenen Phrasen verblödende Politiker möchten die Nation vor allen Formen der Integration bewahren. Obwohl die Nation schon lange bloß als historisches Gebilde und kultureller Begriff existiert. Nationale Volkswirtschaft? 70 Prozent der Exporte Ungarns sind schon jetzt Ergebnis des Eifers der multinationalen Unternehmen. Unsere alten Fußballstars waren Nationalhelden – die heutigen wären internationale Ware, wenn sie Fußball spielen könnten. Die Sonne der Nationalstaaten sinkt. Unsere Grenzen werden immer durchlässiger, während der Schrecken der Grenzkonflikte eine Realität bleibt. In Mittel-Osteuropa würde ihn bloß die gemeinsame Nato- und EU-Mitgliedschaft endgültig aus den Seelen tilgen.
Es schadet natürlich nicht, zu wissen, daß Europa nur eine mittlere Stufe im Integrationsprozeß darstellt. Europa und Amerika sind um so mehr aufeinander angewiesen, als dies die immer nachdrücklicher auftretende Herausforderung Asiens erfordert. Der Ausdruck „euro-atlantisch“ legt bereits nahe, daß sich selbst ganze Kontinente ineinander integrieren. Dies mag der Beginn einer alptraumhaften Entwicklung sein; doch ist auch nicht auszuschließen, daß, um mit dem verhaltenen Optimismus von Attila József zu sprechen, „die Qual subtiler wird“. Die Integration geht also mit großen Risiken einher. Auch darin unterscheidet sie sich von den Szenarien der nationalen Mythologien, die nur das sichere Scheitern versprechen. István Eörsi
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