: Radikalisieren, nicht polarisieren
■ Die Bündnisgrünen suchen eine Wahlkampfstrategie
Wer das Dilemma bündnisgrüner Politik in den kommenden Monaten ermessen will, der stelle sich eine Wahlveranstaltung vor, auf der dem geneigten Wähler der Abschied von der Vollbeschäftigung verkündet wird. Kein Versprechen auf bessere Zeiten, dafür aber viel Verunsicherung. Oder die bestehende Verunsicherung auf ihren Begriff gebracht, den zwar jeder schon erahnt, den aber keine andere Partei auszusprechen wagt.
Die beiden Varianten beschreiben Risiko und Möglichkeit eines bündnisgrünen Wahlkampfes zugleich. Die Grünen kämpfen auf Feldern, auf denen seit Jahren andere Parteien als kompetent gelten. Was der CDU die Wirtschaft, ist der SPD die Sozialpolitik. Was Wunder, daß bei solchen Aussichten so mancher Grüner seine Zuversicht wieder bei der strahlenden Sonne der Anti-AKW-Bewegung sucht. Nur Zukunft wird er dort nicht finden, neue Wähler erst recht nicht. Wer in die alte Arbeitsteilung ausweicht, hat schon verloren.
Mit den anderen Parteien auf ihrem Heimfeld konkurrieren, ohne in deren Maximalismus zu verfallen – darin kann ein Ausweg aus dem grünen Dilemma liegen. Nicht Millionen Arbeitsplätze schaffen wollen, wo andere die Halbierung der Arbeitslosenzahl so schnell versprechen, wie sie dieses Versprechen brechen. Erst wenn man Arbeitslosigkeit als strukturelles Dauerproblem thematisiert, läßt sich die Bedeutung der Grundsicherung erkennen. Erst wenn das egalitäre Prinzip der Grundsicherung durchgesetzt wird, verlieren Versuche der Spaltung der Gesellschaft ihren Gegenstand. Erst wer die alte Dichotomie zwischen Kapital und Arbeit überwindet, kann Modelle der Teilhabe sowohl am Arbeits- als auch am Kapitalvolumen entwickeln – und der Teilung in Besitzende und Habenichtse entgegenstellen.
Nicht in der Polarisierung liegt der Schlüssel grünen Wahlkampfs, sondern in der Radikalisierung eines Gesellschaftsentwurfs. Der Kälte des Neoliberalismus nicht die Wärme überbordender staatlicher Fürsorge entgegenhalten, sondern die ordnungspolitischen Instrumente in ihrer Kärglichkeit benennen und gerecht einsetzen. Und schließlich, warum nicht dem bewährten, gleichwohl urgrünen Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe zu einem Revival verhelfen? Dann brauchten sie auch nicht mehr schweigen, wo andere klientelversessen von Mittelstandspolitik reden. Dieter Rulff Bericht Seite 7
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