: Farce, Tragödie und Geschichtsstunde
Ein Lehrstück über Justiz in der Diktatur: Die sieben angeklagten DDR-Richter und Staatsanwälte im Havemann-Prozeß wurden freigesprochen. Für Havemanns Witwe Katja haben sich damit die schlimmsten Befürchtungen bestätigt ■ Von Andrea Böhm
Frankfurt (Oder) (taz) – Der Angeklagte Wilhelm P. war fast eine Stunde zu früh erschienen, saß wortlos auf seinem Platz und schwitzte. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er sich auch nach zwei Jahren Prozeßdauer nicht daran gewöhnt hatte, einen Gerichtssaal aus dieser Perspektive zu beobachten. Seine Karriere hatte er als Staatsanwalt gemacht – und in Anbetracht dieses radikalen Rollenwechsels besserten auch die roten Nelken seine Laune nicht auf, die eine junge Frau jedem der Angeklagten auf den Tisch gelegt hatte. Den Freispruch, der wenig später verkündet wurde, nahm er ebenso ungerührt zur Kenntnis wie die verhaltenen Jubelrufe im Zuschauerraum.
Wilhelm P. war, das bescheinigte ihm der Vorsitzende Richter Joachim Dönitz, ein Jurist, wie ihn sich die DDR wünschte. Einer, für den das Recht eine machtstabilisierende Funktion im Dienst der Partei hatte. Diese Macht muß er in Gefahr gesehen haben durch einen Dissidenten wie Robert Havemann, der 1976 nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann einen Protestbrief an den Spiegel geschmuggelt hatte. Der ehemalige Staatsanwalt P. beantragte damals in einem Schnellverfahren eine „Aufenthaltsbeschränkung“ – also einen Hausarrest für Havemann –, die bekanntermaßen genehmigt wurde und mit fast vollständiger Kontaktsperre über fast drei Jahre anhielt. 1979 war es wieder der Staatsanwalt P., der die Höchststrafe von 10.000 Mark wegen eines angeblichen Devisenvergehens gegen den Regimekritiker beantragte – und durchsetzte.
All dies war, wie man heute weiß, Bestandteil einer Stasi-Strategie, den Chemiker und Oppositionellen mundtot und mittellos zu machen, zu zermürben. Fünf Richter und zwei Staatsanwälte, die an der Repressionsmühle gegen Havemann mitgewirkt hatten, waren vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) der Rechtsbeugung angeklagt. Am Dienstag verkündete Richter Dönitz im vollbesetzen Gerichtssaal Freispruch für alle Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft hatte für fünf Angeklagte Bewährungsstrafen zwischen einem und zwei Jahren, in einem Fall Freispruch und in einem weiteren Fall die Einstellung des Verfahrens gefordert. Unbestritten sei, so der Richter, daß die Maßnahmen gegen Havemann einer „umfassenden Abstimmung“ zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit und der Justiz unterlegen hätten. Nicht bewiesen sei jedoch, daß sich die Angeklagten ihrer Rolle in einem „Drehbuch“ der politischen Verfolgung und der gezielten Steuerung durch die Stasi bewußt gewesen seien.
Der Urteilsverkündung in diesem Prozeß, der von vielen als maßgeblich für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte angesehen wurde, folgte eine Begründung von über 100 Seiten, in der Dönitz zu einer umfassenden Beschreibung des Rechtssystems der DDR und dem Alltag von DDR-Juristen ausholte. Dönitz' Ausführungen folgten Katja Havemann, die Witwe des 1982 verstorbenen Dissidenten, und ehemalige DDR- Oppositionelle wie Jürgen Fuchs mit gequältem Lächeln. Was ihnen da vom Gericht akribisch vorgetragen wurde, war die genaue Funktionsweise einer Justiz im Dienste einer Diktatur mit dem konkreten Resultat, daß die Richter und Staatsanwälte immer zuwenig über ihre Verstrickung wußten, um der Rechtsbeugung schuldig gesprochen zu werden. Der Freispruch, so Katja Havemann, habe ihre „schlimmsten Befürchtungen“ bestätigt. „Die können doch keinem weismachen, daß sie damals nur Objekte und Marionetten eines Systems gewesen waren.“
Es war ein Prozeß, in dem sich Farce, Tragödie, Geschichtsstunden und glanzvolle Soloauftritte abwechselten. Einen Schöffen übermannte bald nach der Eröffnung des ersten Verfahrens 1995 gegen die ehemaligen DDR-Juristen während der Verhandlung der Schlaf, nachdem er zuvor in wachem Zustand einem der Verteidiger Prognosen über den Ausgang des Verfahrens mitgeteilt hatte. Ein Ersatzschöffe stand nicht zur Verfügung, der Prozeß mußte nach fünf Monaten eingestellt und im zweiten Anlauf 1996 völlig neu aufgerollt werden.
Ein Zeuge sollte das Ende des Prozesses nicht mehr erleben. Havemanns Rechtsanwalt Götz Berger brach Minuten nachdem er seine Zeugenaussage zu Protokoll gegeben hatte, tot im Gerichtssaal zusammen. Drei Stunden lang hatte der 91jährige zuvor noch über seine Begegnungen mit seinem Mandanten berichtet; über dessen aufgeregten Anruf nach der Verhängung des Hausarrests; über den Einspruch, den er gegen das Urteil einlegte; über die Genossen im DDR-Justizministerium, die ihn keine 24 Stunden später mit Berufsverbot und Ausschluß aus dem Anwaltskollegium belegten – und daß, obwohl er „doch immer schon“ Kommunist gewesen sei und ihm die Nazis seinerzeit die Ausübung des Anwaltsberufs wegen „kommunistischer Umtriebe“ verboten hatten.
Ein anderer Zeuge lieferte im Gerichtssaal eine ebenso fulminante wie ausführliche Geschichtsstunde: Wolf Biermann bot einen Auftritt mit Text und ohne Gitarre über Havemann, sich selbst und die DDR-Opposition der 70er Jahre, die „mit Marx- und Engelszungen“ den Parteibonzen das Monopol auf den Kommunismus abspenstig machen wollten.
Am Ende blieben in diesem Kampf der Dissidenten gegen die DDR weder das Monopol noch der Kommunismus übrig – und nach Auffassung von Katja Havemann auch keine „nachträgliche Gerechtigkeit“. Womit der Fall Robert Havemann allerdings noch nicht abgeschlossen ist: Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, in Revision zu gehen.
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