: Kritische Masse ist erreicht
Der Widerstand gegen die Belästigung durch Lärm und Abgase reicht von Spaßguerilla-Aktionen bis zum aufreibenden Windmühlenkampf gegen die Berliner Bürokratie ■ Von Ole Schulz
„Wir sind wie Autos. Wir trinken wie Autos, laufen schnell wie Autos, haben keine Zeit mehr ,Guten Tag‘ oder ,Auf Wiedersehen‘ zu sagen... wir kommen immer zu spät, auch wenn wir zu früh kommen. Valérie, 9 Jahre (aus: Paul Virilio: „Fahren, fahren, fahren...“)
Der französische Philosoph Paul Virilio warnt unermüdlich vor den Folgen der Beschleunigung: Bei jedem neuen Fortbewegungsmittel sollte man sich nicht nur den vermeintlichen Nutzen, sondern vor allem auch die Kosten der technischen Errungenschaft vor Augen führen, rät Virilio. In der Bilanz schneidet das Auto besonders schlecht ab: 1996 gab es allein in Berlin 120 Tote und 19.274 Verletzte im Straßenverkehr. Tödliche Verkehrsunfälle liegen immerhin auf dem achten Rang der Todesursachen. Das wundert insofern nicht, als jeder dritte Berliner meint, einen Pkw sein Eigen nennen zu müssen.
Welche Emotionen mit dem Auto verbunden sind, hat nicht zuletzt der Proteststurm gezeigt, der losbrach, als der rot-grüne Senat 1989 die Avus zur Tempo-100- Zone erklärte. Kurz vor dem Mauerfall waren sich Tausende Westberliner nicht zu schade, im Stau auf der Avus „freie Fahrt für freie Bürger“ zu skandieren und ihre Wagen mit dümmlichen Aufklebern zu verzieren („Tempo 100 – ick gloob ick spinne“). Doch viele wehren sich längst gegen die Belästigung und die Gefahren durch den motorisierten Verkehr. Der Widerstand gegen Lärmbelästigung und Auspuffabgase ist dabei mindestens genauso phantasievoll wie ein Stau für Fußgänger nervtötend sein kann. Die Ideen der erklärten Autogegner reichen von Spaßguerilla-Aktionen (nicht immer ganz legal) bis zum aufreibenden Windmühlenkampf gegen die Berliner Bürokratie.
Mit dem Slogan „Macht mit, habt Spaß“ wird in Flugblättern zu einer „Critical Mass“-Kundgebung aufgerufen. Bei dieser spontanen Protestaktion, die in San Francisco geboren wurde, treffen sich einzelne RadfahrerInnen „zufällig“ am Brandenburger Tor, um dann zusammen als „dichte Masse“ zum Roten Rathaus und wieder zurück zu radeln. Dabei wird in Kauf genommen, daß „der Autoverkehr etwas gestört wird“, denn „wir RadfahrerInnen werden ja ständig von Autos blockiert, bedrängt, verschmutzt, belästigt.“
Fahrlässige Sachbeschädigung
Einige mutige Fußgänger wiederum überqueren Straßen stets ganz gemählich, um Raser zum Bremsen zu zwingen. Und einer hat daraus sogar seinen Beruf gemacht: Michel Hartmann ist Auto- Geher. Sein Motto lautet: „Rückeroberung von Straßenraum für die Menschen und nicht für die Maschinen!“ Hartmann lebt davon, daß er „Car walking“-Seminare veranstaltet: Hier lehrt er, behende über Autos zu laufen, die auf Radwegen parken oder sonstwie im Wege stehen, ohne sie zu beschädigen. Manchmal geht das aber leider auch schief – so zum Beispiel bei einer Demonstration seiner Künste am Chamissoplatz im April 1995, als er auf einen Wagen eine kleine Beule hinterließ. Dennoch wurde der 31jährige Münchener in der Berufungsverhandlung vor dem Berliner Oberverwaltungsgericht im April diesen Jahres freigesprochen. Er habe die Sachbeschädigung fahrlässig, aber nicht vorsätzlich begangen, und das sei nicht strafbar, urteilte das Gericht. Selbst der Staatsanwalt räumte in seinem Plädoyer ein: „Nicht alles, was verboten ist, ist strafbar.“ Inzwischen hat Hartmann auch ein Buch über sein bewegtes Leben verfaßt („Der Autogeher – Auto-Biographik eines Autogegners“).
Andere Fußgänger fühlen sich dagegen schon durch rasende und wütend den Fahrradweg freiklingelnde Veloten in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Der Brasilianer João Ubaldo hat, während er als DAAD-Stipendiat in Berlin war, eine vergnügliche Geschichte über das „schrecklichste, unerbittlichste und bedrohlichste Vehikel“ geschrieben, das ihm in Stadt begegnet ist: das Fahrrad. „Davor habe ich mittlerweile soviel Angst, daß ich mich neulich, als ich in der Ferne eine Horde von Radfahrern erblickte, die noch ausgelassener als sonst war, weil die Sonne gerade einen ihrer fünfjährlichen Auftritte hatte, schleunigst hinter einen Baum flüchtete, bis sie vorbei war, mit einer Geschwindigkeit, die ihr bestimmt eine gute Qualifikation bei der Tour de France gesichert hätte.“
Explizit für die Interessen der Fußgänger setzt sich der FUSS e.V. ein. Der Verein hält die Politik des Verkehrssenats für „erschreckend fußgängerfeindlich“. Einig ist sich der FUSS e.V. hingegen mit vielen Fahrradlobbyisten, daß für alle nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer mehr Platz geschaffen werden müsse – zum Beispiel durch Fahrradstreifen auf den Straßen, welche die Gehwege entlasten würden. Der Fußgängerschutzverein will insbesondere helfen, (Kinder-) Verkehrsunfälle zu verringern. Dazu wurde im Juni der Wettbewerb „Wie sicher kommt man über Berlins Straßen?“ ins Leben gerufen. Gesucht werden „Berlins fußgängerfeindlichste Ampel“ und Vorschläge, wo neue Zebrastreifen oder Mittelinseln dringend notwendig sind.
Initiative „Rechtsschutz gegen Lärmschmutz“
Den langwierigsten Weg, gegen die Belästigungen des Autoverkehrs zu protestieren, haben aber mit Sicherheit die Teilnehmer der Initiative „Rechtsschutz gegen Luftschmutz“ auf sich genommen. Nachdem der Verkehrssenat 1992 eine Studie veröffentlicht hatte, in der drastische Schadstoffbelastungen durch den Kfz-Verkehr in der Berliner Innenstadt bilanziert wurden, war die Kampagne von Greenpeace und dem Unabhängigen Institut für Umweltfragen e.V. (UfU) gestartet worden. Bisher haben viele hundert Berliner Anträge zur Reduzierung der Lärm- und Luftschadstoffbelastungen beim Polizeipräsidenten gestellt, und 27 Bürger haben Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht eingereicht, um Verkehrsbeschränkungen in ihren Wohnstraßen durchzusetzen. Im Juni 1995 wies das Verwaltungsgericht im Musterprozeß um die Neuköllner Silbersteinstraße schließlich die Behörden an, „ernsthaft zu prüfen“, ob verkehrsberuhigende Maßnahmen nötig sind. Doch der Verkehrssenat ging in Berufung – seitdem liegen die meisten Klagen auf Eis. „Wir warten schon lange auf die Verhandlungen vor dem Oberverwaltungsgericht“, so Michel Zschiesche vom UfU.
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