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200 junge Kehlen für ein Halleluja

■ „Notruf für Deutschland“: Ein Erlebnisbericht von Schlingensiefs Umzug zu Scientology und „World of Sex“

Mit der „Auslöschung der reaktiven Vernunft“und der „Vernichtung schädlicher Energie“scheint es bei den Mitarbeitern der Scientology-Kirche, die am Montag abend Sektendienst hatten, noch nicht ganz so weit her zu sein. Denn als um kurz nach 21 Uhr ein fröhlicher Haufen singender und wißbegieriger junger Menschen unter Führung eines unrasierten Blue Barrets mit Megaphon auf ihr Etablissement in der Steinstraße zusteuerte, begann ein ängstlich-hektisches Treiben im Haus. Computer wurden abgestellt, Papier weggekramt, die Chefs geholt. Doch dann, 200 merkwürdige Gestalten lachten und johlten im Hochgefühl ihrer tollen Aktion im Koberer-Foyer der Sekte, kehrt das apotropäische Götzengrinsen zurück in die Gesichter der Hubbard-Jünger, und man bemühte sich um ernste Propaganda.

Wir ahnen es schon, der Notruf für Deutschland unter der gutgelaunten Animation des Christoph Schlingensief war wieder unterwegs. Nachdem man sich mit etwas „Staying Alive“und einem „Du kannst es, wenn du es nur wirklich willst“-Rap des hüpfenden Vorsängers in der Bahnhofsmission in Demo-Stimmung gebracht hatte, zog die ungewohnte Mischung aus Künstlern, Junkies, Theatervolk und Neugierigen zum Dianetik-Zentrum. Dort mußte man dann eine lustige Stunde lang erleben, wie ein Unternehmen, das sich auf die Gehirnwäsche seiner Kunden spezialisiert hat, nicht einmal die einfachsten Vertretertricks beherrscht, um ihr Waschmittel ans Volk zu bringen. Ein ganz mieser Propaganda-Film für die hauseigene Drogen-Kampagne „Narcolon“konnte nur brüllendes Halleluja-Skandieren ernten und die festgefahrene Rhetorik der Grinsemänner, jede Frage mit einer Gegenfrage aushebeln zu wollen, multiplizierte erst das Gespött, aber bald auch die Langeweile.

Nachdem die Demo sich schon tröpfchenweise aus dem schauerlichen Keller der Sekte, der das stickige Posemuckel-Ambiente einer mies dekorierten Schulaula verströmte, verabschiedete, weil das hilflose Gequatsche der Religionsanbieter die gute Stimmung zu rauben begann, zog das Schlingensiefsche Gemeinwesen weiter in eine Peepshow.

„World of Sex“war angemietet worden, um erst ein wenig gut trainierte Nackt-Gymnastik zu beklatschen und dann Bernhard Schütz bei einer Kresnik-haften Strip-Show zu bewundern. Auch hier feierte sich die Gruppe wieder überwiegend selbst, sang die Notruf-Hits „Wir wollen trauern“und „Der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen ist“, begaffte Plüsch-Handschellen, Schwangeren-Sex-Videos und Monster-Dildos und begann irgendwann müde zu werden und genug zu haben.

Eine tolle Show, die beste in der bisherigen Notruf-Woche und ein weiteres Argument für die Forderung: „Die Bahnhofsmission muß weitergehen, Christoph Schlingensief braucht eine Wohnung in Hamburg und das Essen muß besser werden.“Der Spaß ist schon kaum zu toppen. Kees Wartburg

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