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In der letzten Reihe der Macht

Die Landwirtin Frieda Sternberg war 31 Jahre im Zentralkomitee der SED. In der Überzeugung, dort auch hinzugehören  ■ Von Jens Rübsam

„Ich würde nicht gerne in einer LPG leben, aber wenn es denn sein müßte, dann wenigstens unter Frieda Sternbergs Führung.“

Marion Gräfin Dönhoff in

„Reise in ein fernes Land“. 1965.

Wer fremd ist im sächsischen Bennewitz, hat es nicht leicht, den Ortsteil Altenbach zu finden. Ganze Straßenzüge sind aufgegraben. Wer fragt, bekommt einen Schleichweg gewiesen. Wer nach Frieda Sternberg fragt, bekommt die genaue Adresse: Altenbacher Weg, drittes Haus, linke Seite. Frieda Sternberg kennt jeder im Dorf. Jeder, der in der Republik etwas mit Landwirtschaft zu tun hatte, kannte Frieda Sternberg.

1967 schrieb die DDR-Frauenzeitschrift Für Dich in einem Porträt über die erste Frau, die einer LPG vorstand: „Nun ist dieser Tag vorüber, und Frieda Sternberg, diese als resolut und temperamentvoll bekannte Frau, Kandidat des Zentralkomitees der SED, Held der Arbeit, Träger der Clara-Zetkin-Medaille und neben anderen hohen Auszeichnungen jetzt auch des Titels ,Hervorragender Genossenschafter‘, diese hochverdiente Frau ist abgespannt.“ Fast zwanzig Jahre später, nach dem XI. Parteitag 1986, erschien Sternbergs Visitenkarte im SED-Zentralorgan Neues Deutschland: „Vorsitzende der LPG Tierproduktion Bennewitz, Kreis Wurzen; geb. am 3. März 1920, seit 1946 Mitglied der Partei, Landarbeiterin, Meister der Landwirtschaft, Staatlich geprüfter Landwirt, Diplom-Landwirt.“ Frieda Sternberg war als Kandidat des Zentralkomitees wiedergewählt worden.

Altenbacher Weg Nr. 7 also, die Familie ist zum Mittagessen da. „Muttel“ hat den Gulasch und die Nudelsuppe vom Vortag aufgewärmt. Das macht sie immer so. Weggeworfen wird nichts bei der 77jährigen, die 35 Jahre Vorsitzende einer LPG Tierproduktion war. Kinder, Enkel und Urenkel sind satt geworden, der Abwasch kann ausnahmsweise warten. Auf dem Tisch liegen fünf Tageszeitungen, im Korb neben der Eckbank schon Weihnachtsgeschenke: Strümpfe in Schwarz-Gelb, weil die Urenkel Borussia-Fans sind.

„Mein Leben?“ Frieda Sternberg breitet die Hände aus. In Ostpreußen aufgewachsen, ihr Vater war KPD-Mitglied, die Mutter eine protestantische Landarbeiterin aus Litauen. Sie mußte arbeiten, schon als Kind, bei einem Großgrundbesitzer, für 50 Pfennig: „Wir waren arm, aber reich an Charakter.“ 1944 floh sie aus Kalkhöfen, da war sie 24 und hatte drei Kinder. „Die Faschisten haben uns rausgehetzt“, sagt Frieda Sternberg, noch immer stimmgewaltig. Zwölf Monate zog sie herum, im heutigen Tschechien, wo sie selbst als Faschistin beschimpft wurde, nach Berlin, wo sie einen ihrer Jungen krank zurücklassen mußte. Sie kam nach Sachsen. Sie wollte nach Schleswig-Holstein. Aber sie hatte den Schnaps nicht, den die Russen fürs Durchlassen in den anderen Sektor verlangten. Also blieb sie in dem Dorf Canitz. Arbeitete auf dem Hof eines ehemaligen Rittergutbesitzers, trat in die SPD ein, was ihren Vater „nicht begeisterte“, dann in die SED.

1953 wurde sie zur Vorsitzenden der Bennewitzer LPG „Ernst Thälmann“ gewählt. Ihr Tag sah fortan so aus: Aufstehen um 3 Uhr. Melken. Nach Hause gehen und die vier Kinder für die Schule fertig machen. Ab 7 Uhr LPG-Vorsitzende sein. Am Nachmittag wieder melken. Kinder versorgen. Abends Versammlungen und zwischendurch für ihre Bauern kämpfen. Etwa als es hieß, die Landarbeiter bekämen keine Lebensmittelkarten, weil sie doch Schweine hätten. Sie fuhr in die Kreisstadt. Der Landrat selbst brachte die Lebensmittelkarten vorbei. 1954 wurde sie vom IV. Parteitag als Kandidatin des Zentralkomitees gewählt, in jenes Gremium, dem die Spitzenfunktionäre der SED angehörten, vorwiegend aus dem Partei- und Staatsapparat, aber auch aus den Massenorganisationen. Anfangs war Sternberg die einzige Frau aus der Landwirtschaft, eine unbequeme dazu. Als sie protestierte gegen die Rinder- Offenställe – „ich war der Meinung, die Tiere frieren“ –, wurden ihr ideologische Unklarheiten bescheinigt. Fünf Minuten vor Beginn des V. Parteitages erfuhr sie, sie sei nicht mehr vorgesehen als Kandidat. Was da in ihr vorgegangen sei? Was soll da in einem vorgegangen sein, fragt sie zurück – und für einen Moment zögert sie. Ihre Augen schauen skeptisch.

Nein, hatte Frieda Sternberg beim ersten Anruf gesagt, sie wolle nicht mehr darüber reden. Die Sache sei abgeschlossen, vorbei. Warum noch sprechen über die DDR, über 35 Jahre als LPG-Vorsitzende, über 31 Jahre im Zentralkomitee? Warum ausgerechnet mit einem, der zwei Generationen nach ihr geboren ist? „Sind Sie aus dem Osten?“ hatte sie beim zweiten Anruf wissen wollen.

Sie habe immer für den Sozialismus gearbeitet, sagt sie nun, nach einer Pause. Habe sich immer an die Worte ihres Vaters gehalten: offen kämpfen und nicht hinterrücks. Daß die Partei mit einer Abstrafung reagierte, verstand sie nicht. Zu denken gab es ihr aber auch nicht. Vielleicht – und das bleibt vage – hat sie sich damals vorgeworfen, der Partei, die immer recht hat, geschadet zu haben. So deutlich sagen will sie es nicht.

Vier Jahre später, 1962, wurde sie wieder aufgestellt als Kandidat. Als der damalige Minister für Agrarpolitik die Trennung von Pflanzen- und Tierproduktion bekanntgab, wußte sie als LPG-Vorsitzende zwar, daß das großer Blödsinn, für die Landwirtschaft sogar das größte Unglück war. Gesagt hat sie dies im kleinen Kreis, im ZK aber, als nunmehr gefügiges Parteimitglied, hat sie geschwiegen. Wie sie unter Honecker immer geschwiegen hat. Redebeiträge wurden vorher abgenommen, Diskussionen waren nicht erwünscht. „Mit Honecker“, sagt Frieda Sternberg, „habe ich nie ein einziges Wort gesprochen.“

Wir reden über das Zentralkomitee. Ja, bestätigt sie, sie sei der ewige Kandidat gewesen. Sie wäre es immer noch, würde es das ZK noch geben. Frieda Sternberg hat immer hinten gesessen, weil die Genossen in alphabetischer Reihenfolge plaziert waren. Seit dem XI. Parteitag im April 1986 saß sie in der letzten Reihe, zweiter Platz von links, neben Willi Skibinski, dem Sekretär für Landwirtschaft der Bezirksleitung Magedeburg, mit dem sie oft einer Meinung war, und neben Marianne Stobbe, der Leiterin einer Berliner Kaufhalle, mit der sie nichts anfangen konnte. Wenn das ZK tagte, und es tagte zweimal im Jahr, ließ sich Frieda Sternberg am Tag zuvor nach Berlin fahren, von einem Fahrer der LPG: „Das muß man sich vorstellen, meine ZK-Arbeit mußte die LPG bezahlen!“ Sie zeigte ihren roten Ausweis mit der Nummer 297, nahm Platz auf ihrem blauen Stuhl, redete in der Pause mit ihren sechs Bauern und sah zu, am Ende schnell wieder nach Hause zu kommen, in die LPG.

Dort war ihr Sozialismus. Dort hatte sie die Verbindung zum Volk, die den Persönlichkeiten, die nach der Tagung auf Jagd gingen, abhanden gekommen war. In Bennewitz warteten 6.000 Hektar, die zu bewirtschaften waren, warteten 2.700 Rinder, 140.000 Legehennen, 150 Sauen und 5.000 Mastschweine. 30 Millionen Eier und 10 Millionen Liter Milch jährlich lieferte die LPG Bennewitz. 1.300 Mark im Monat hat Frieda Sternberg verdient, weniger als ein Melker, aber „der arbeitet ja auch härter“, meint sie noch heute. Einziges Privileg, das ihr die ZK-Mitgliedschaft einbrachte, war der jährlich bezahlte Urlaub. Mal Sowjetunion. Mal Kuba.

Wir reden über die letzten ZK- Tagungen. Über den 18. Oktober. Fürchterlich sei die Stimmung gewesen, erinnert sich Sternberg, „ich habe ehrlich nicht gewußt, daß Erich Honecker abgewählt werden sollte“. Mit einer Stunde Verspätung habe die Sitzung begonnen, „das war noch nie da“. Dann habe Honecker seinen Rücktritt erklärt. Sie sei wie alle aufgestanden und habe ihm für seine Arbeit applaudiert. Sie sei länger stehengeblieben als andere, der Willi neben ihr übrigens auch. „Was hatten wir denn gegen den Honecker?“ sagt Frieda Sternberg aufgeregt. Sie ist nicht sicher, ob ich die Frage verstehe. Ob sie selbst weiß, was sie formuliert hat?

Wir reden über das Ende der DDR. Die ZK-Tagung vom 8. bis zum 10. November. Krenz, der neue Generalsekretär, für Sternberg ein „stets lachender Mensch, der keine Menschlichkeit ausstrahlte. Krenz sagte: ,Wenn man das Lebensniveau ausschließlich auf die eigene Leistung gründen wollte, müsse man es sofort um 30 Prozent absenken.‘“ Ein Schlag ins Gesicht jener LPG-Vorsitzenden, die gerade den Vorsitz abgegeben hatte, aber jedes ihrer vielen Arbeitsjahre auf dem Buckel spürte.

Während der Tagung, am 9. November 1989, fiel die Mauer. Am 10. November fuhr Frieda Sternberg zurück nach Bennewitz, einen großen Umweg nehmend, weil die Straßen verstopft waren von denen, die nach Berlin, nach West- Berlin wollten. Aus ihrer eigenen Familie waren zwei schon Jahre vorher abgehauen. „Was sollte ich dazu sagen?“ fragt Frieda Sternberg. Es klingt noch immer hilflos.

Ja, wir müssen über Fehler reden. Darüber, daß sich die DDR selbst zerstört hat. Da ist sich Frieda Sternberg sicher: „Macht ist schrecklich.“ Sie wiederholt den Satz, als dürfe er nicht versickern. „Dieses Machtbedürfnis, das es gegeben hat, war schrecklich.“ Aber: „Gibt es das heute nicht wieder? Dieses Entfremden von Politikern und Bürgern?“

Für das Scheitern der DDR gab es genug Gründe, aus ihrer Sicht auch diesen: Das Zerwürfnis mit der KPdSU, „zwischen Honecker und Gorbatschow lief es einfach nicht“. Vor allem aber die wirtschaftlichen Probleme: Die Lieferungen ins Ausland, wo man doch die Maschinen im eigenen Land so dringend gebraucht hätte. Nur ein Beispiel von vielen aus ihrer LPG: „15 Jahre alte Maschinen standen da rum“, notdürftig mit Ersatzteilen am laufen gehalten. „Aber“, und Frieda Sternbergs Stimme hat wieder zu ihrer Wuchtigkeit gefunden, „wir haben doch für einen guten und ehrlichen Sozialismus gekämpft.“ Das läßt sie sich nicht nehmen.

„Schauen Sie sich die Landwirtschaft heute an“, sagt Sternberg. Da bekämen die Bauern Geld dafür, daß sie ihr Land brachliegen ließen. Da seien die Schlachthöfe in der Nähe dichtgemacht worden. Die Hühner von der Farm gegenüber würden jetzt 600 Kilometer weit zum Schlachten transportiert. Pro Kilo würden 52 Pfennig bezahlt. „Ehrlich, junger Mann, ist das normal?“ – „Nein“, sagt sie, „das kann kein Dauerzustand sein. Wir brauchen eine sozial gerechte Marktwirtschaft.“

Frieda Sternberg steht auf, geht hinaus an den braunen Holzschrank und kommt mit drei Büchern zurück. „Ein weites Feld“, „Was von den Träumen blieb. Eine Bilanz der sozialistischen Utopie“ und „Die Gründerjahre. Als der Kapitalismus jung und verwegen war“. Welches wird sie mir in die Hand drücken? Sie gibt mir „Die Gründerjahre“. „Lesen Sie das. Da steht alles über den Kapitalismus drin.“ Dann setzt sie sich auf die Eckbank – und schweigt.

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