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Seitenblicke auf die Enklave Musik

■ Musik und Gedächtnis: die siebte, längst überregional beachtete Fachtagung der „projektgruppe“

Musik ohne Wiederholung kann es nicht geben. Also auch keine Musik ohne Gedächtnis. So wird der Reiz einer Themenvariation erst hörfällig, wenn die „Urmelodie“als Reibungsfläche noch irgendwo im Unterbewußten herumstreunt. Und ein Trugschluß kann nur dann erstaunen, wenn die konservative Macht der Erinnerung eigentlich den gewohnten Tonikaschluß fordert. Jeder Regelverstoß ist Parasit von Regel, Erwartung, Gedächtnis.

Mit einem Grundphänomen der Musik beschäftigt sich also die Tagung „Erinnern-Vergessen-Speichern-Löschen: Musik in der Zeit des digitalen Gedächtnisses“. „Allerdings auch mit einem tagesaktuellen Phänomen“, so beanspruchen es die Veranstalter – und denken dabei nicht nur an die diversen Mahnmaldebatten und das beängstigende Näherrücken von Silvester – schon wieder – und der Jahrtausendwende, sondern auch an die Entlastung des individuellen Gedächtnisses durch neue digitale Speichermöglichkeiten.

Weil solche Verzahnungen zwischen musikalischen und gesellschaftlichen Phänomenen im Zentrum des Interesses stehen, lud man als Referenten viele Wissenschaftler aus anderen Disziplinen zum Werfen von Seitenblicken auf die Enklave E-Musik. Am Samstag um 11Uhr etwa referiert der jüdische Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik (Tip!!!) über den Kampf gegen Verdrängungsmechanismen.

Bei der Programmauswahl war es ein Anliegen, Musik nicht nur als Gefäß für Erinnerungen (an Personen oder historische Ereignisse) vorzustellen. Musikalische Form selbst lebt vom Erinnern respektive Nichterinnern – in unterschiedlichster Weise. Von Olga Neuwirth ist ein Streichquartett zu hören, das mit seinen seltsamen Bogentechniken alles mögliche assoziieren läßt – nur partout keinen klassischen Streicherklang. Ein Anrennen gegen die Fesselung der Kreativität durch Gedächtnis? Morton Feldmans erstes Streichquartettmonstrum schmuggelt in die Ereignislosigkeit einer Endlosschlaufe kleine, schleichende, nicht wahrnehmbare Veränderungen ein. Und plötzlich wird klar, daß alles anders ist als zu Beginn: steter Tropfen höhlt den Stillstand. Bernhard Langs „Versuch über das Vergessen“arbeitet mit Schichttechniken der Malerei. Musikalische Strukturen werden überlagert von immer neuen Strukturen, solang, bis man am Ende ein Palimpsest vor sich hat, dessen interessantesten Seiten verwischt irgendwo in der Tiefe lauern. György Kurtág läßt Fetzen traditioneller Gesten und Gefühle vorbeischweben. Und ehe sie ganz gegriffen haben, sind sie schon wieder verschwunden. Eine Thematisierung der Flüchtigkeit von Erinnern.

Weil alle Podiumsdiskussionen der Tagung nicht nur Musikverbohrten das Wort erteilen, sind sie interessant auch für all jene, die in Sachen E-Avantgarde zwar zögerlich und verschreckt, aber guten Willens sind. Außerdem kann man auf der Tagung viele jener Komponisten hören, die als Namen täglich durch die Zeitungen geistern, aber viel zu selten auf den Podien erklingen. Und alles zu akzeptablen Preisen von 15-25 Mark. bk

Tagung 5. bis 7. Dezember in der Galerie Rabus. Konzerte: Fr 21 Uhr , Sa 18 Uhr (Ansgarii Kirche), Sa 21 Uhr, So 18 Uhr; Infos über das Tanz-, Film- und Vortragsprogramm unter 33 99 350

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