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■ Serbien: Eine Wahl von Šešelj zum Präsidenten wäre ein DesasterDie brüchige Friede auf dem Balkan

Ein Jahr nach den Bürgerprotesten in Belgrad scheint das Schlimmste Wirklichkeit zu werden – der Aufstieg der extremen Rechten. Dies wird nur verständlich, wenn wir die berühmte Denkschrift der Belgrader Akademie von 1986 berücksichtigen. Sie offenbarte eine Identitäts- und Sicherheitskrise in Serbien. Deren Ursachen waren zwar eher in der damaligen Wirtschaftskrise und der autoritären Regierung zu suchen als in der Bedrohungen durch den Kosovo und Kroatien, die die Denkschriftautoren an die Wand malten. Das aber änderte nichts an der unaufhaltsamen Renaissance des serbischen Nationalismus. Milošević begriff das am schnellsten. Die Konsequenzen sind bekannt.

Der Versuch, alle serbisch besiedelten Gebiete gewaltsam zu vereinigen und von der nichtserbischen Bevölkerung zu „säubern“, war der Ursprung des Krieges. Doch paradoxerweise ist Serbien nach Dayton nicht nur der Staat auf dem Balkan, der am meisten Territorium einbüßte, sondern auch der mit den meisten Ethnien. Die Frage lautet nun: Können die „Republica Srpska“, die ungarisch Sprechenden aus der Voivodina, die Albaner, die mehrheitlich den Kosovo bevölkern, und die Montenegriner friedlich in einem serbischen Staat zusammenleben?

Viele Serben halten Miloševićs Politik inzwischen für gescheitert. Deswegen ist der Extremist Šešelj nun zu einer Option geworden. Weil auf nationaler Ebene keine Diskussion über die Verantwortung für den Krieg und die Isolierung Serbiens stattfindet, ist Šešelj unglücklicherweise der einzige, der von der „serbischen Frage“ profitiert. Seine Lösungen sind: Abschaffung aller Autonomieversuche, Vertreibung der Minderheiten. Seinen Populismus steigert er durch egalitäre Ziele: Arbeit, Löhne und Renten für alle. Diese Politik ist besonders für die unteren Schichten verlockend – und für Zehntausende von Flüchtlingen, die Milošević' Politik hinterlassen hat.

Šešeljs vulgäre Art hat nun auf die anderen Kandidaten „abgefärbt“. Weder Milutinović, der Kandidaten Miloševićs, noch Vuk Drasković, der von einem „Serbischen Commonwealth“ träumt, schienen Šešelj zu widersprechen. Drasković hat dies, wie das Wahlergebnis zeigt, nichts genutzt: Er ist der große Verlierer – und mit ihm die Opposition. Bei der Stichwahl zwischen Šešelj und Milutinović, die nun wahrscheinlich folgt, werden sich Draskovićs Anhänger spalten. Ein Teil wird den Aufruf der Opposition zum Wahlboykott folgen, ein anderer wird Šešelj unterstützen. So wird der Extremist Šešelj in Zukunft der einzige sein, der die „serbische Sache“ gegen über Milutinović, dem „Verräter von Dayton“, verteidigt.

Eine Radikalisierung des Belgrader Regimes – ob mit oder ohne Šešelj – würde nicht nur die Auflösung der unsicheren Republik Jugoslawien nach sich ziehen, sondern auch die zerbrechlichen Errungenschaften der „Pax Americana“ für die Region in Frage stellen. Šešelj hat mittlerweile in allen Nachbarstaaten serbische Minderheiten „gefunden“. Sie will er verteidigen, während er den bisher in Serbien tolerierten Gruppen, wie Bulgaren oder Ungarn, schon Übles angekündigt hat. Die Konsequenzen, die seine Wahl für den Machtkampf hätte, der in der Republica Srpska zwischen den „Harten“ aus Pale und den „Moderaten“ aus Banja Luka tobt, liegen auf der Hand. Zudem würde sich die Situation im Kosovo drastisch verschlechtern. Šešelj hat schon versprochen, das Problem „in fünf Tagen zu lösen“.

Eine Verwirklichung dieses Plans würde zweifellos eine Intervention seitens Albaniens und womöglich auch eine Destabilisierung Makedoniens nach sich ziehen. Damit wäre der Frieden auf dem ganzen Balkan in Gefahr. Malt man das Katastrophenszenario weiter, könnten auch Bulgarien, die Türkei und Griechenland mit in den Konflikt gezogen werden.

Wenn nicht ein erneutes Aufbegehren der Bevölkerung in den Großstädten noch etwas verändert, ist Serbien wieder einmal auf dem Weg, jeden Vorstoß in Richtung Demokratie auf dem Balkan zu blockieren. Doch die serbischen Bürger fühlen sich heute der Politik machtlos ausgeliefert. Alexandre Levy

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