Keine „Schutzhaft“für das Haustier Kind!

■ Selbst Abenteuerspielplätze sind heute mit mannshohen Zäunen umgeben. Pädagogen plädieren für die kindliche Rückeroberung großstädtischer Lebenswelten

Früher waren Kinder die heimlichen Könige der Straße. Noch in den sechziger Jahren war das Ballspiel auf dem Asphalt ein selbstverständlicher Baustein kindlicher Freizeitgestaltung. Dann kam König Auto. Die Schreie der Völkerballspielenden verstummten. Rasenflächen und Innenhöfe sind heute zumeist den Geschäften der Vierbeiner vorbehalten. Der endgültige Triumph der Hausmeister über die Lebenden steht unmittelbar bevor.

„Mit der Flächenversiegelung hat der Beton in den Köpfen und auf dem Boden gesiegt“, resümierte jüngst Helga Treeß in einem Vortrag zur Kindertauglichkeit großstädtischer Lebenswelten. Die Leiterin der Jugendhilfe im Rauhen Haus plädiert dafür, die Kleinen aus ihrer „Schutzhaft“in Kindertagesheimen und Häusern der Jugend zu befreien. Denn: Selbst Abenteuerspielplätze – der letzte Aufschrei erfinderischer Pädagogen aus den achtziger Jahren – sind heute von einem mannshohen Zaun umgeben.

„Die Aneignung städtischer Lebenswelt endet für Kinder meist vor der eigenen Haustür“, kritisiert Treeß. Aus mancher Kita werde auf diese Weise eine „geschlossene Unterbringung“für Kinder unter sechs Jahren. Betreuer kapitulieren vor den Gefahren der Stadt und sperren sich und ihre Zöglinge vorsorglich ein. Aus einem spannenden, dem kleinen Risiko verbundenen, mit Schrammen und Hansaplast begleiteten Kinderleben „ist ein Flickenteppich sozialpädagogisch gestützter, institutionell gebundener Angebote geworden“. Die letzte Nische, die den streunenden Kids noch bleibt, sind die Einkaufszentren.

Die Soziologin Treeß stemmt sich gegen diese „Verhaustierung“von Kindern: „Die Jugendeinrichtungen müssen ihre Philosophie überdenken und das, was nicht zum besten steht, nicht von vornherein der Behörde anlasten.“Falls der Kampf gegen Multimedia und Autoindustrie nicht verloren gegeben werden soll, müsse sich die Jugendhilfe zu einer gemeinsamen Front aufraffen. „Die Fachbehörden müssen ihre Zergliederung aufgeben“, fordert Treeß. Seit Monaten brütet das Amt für Jugend gemeinsam mit den bezirklichen Jugendämtern über den Plänen für die Neuordnung der Jugendhilfe.

Daran, daß „da lauter kluge Frauen sitzen“, hat Helga Treeß keinen Zweifel. Aber dadurch, daß die Bezirke jetzt anstelle der Behörde mit den Trägern der Einrichtungen zusammenarbeiten sollen, gerät die eigentliche Arbeit vorerst ins Stocken. „Den Sozialarbeitern geht es doch selbst auf den Geist, sich nur mit der Verwaltung und der Finanzlage zu beschäftigen.“

Die Forderungen der Soziologin: Mehr „Herumstromern und rumlungern“im Stadtteil oder nahegelegenen Park, Öffnung der Einrichtungen für nichtzugehörige Kinder aus der Nachbarschaft und die Integration von Behinderten. „Zumindest zeitweise sollten Kinder entkommen dürfen und in altersgemischten Cliquen unter sich sein können“, so Treeß. „Das muß ja nicht gleich bedeuten, daß die Betreuer anfangen, auf Bäume zu klettern, um sie im Auge zu behalten.“Lisa Schönemann