: Sternstunde der Deutschen Bahn
75 Minuten verspätet, aber glücklich: Im ICE „Spree-Kurier“ zur vorweihnachtlichen Heimfahrt von Berlin nach Bochum. Im gemeinsamen Lamento über die Verspätung des Zuges kommt man sich zügig näher ■ Von Günter Ermlich
Bahnhof Zoo in Berlin. 22. Dezember, kurz vor 19 Uhr. Es zieht wie Hechtsuppe. Auf Bahnsteig 3 herrscht erwartungsfrohe Erregung. Meist jüngeres Volk, das über die Feiertage zur Geschenkaustauschaktion nach Hause strebt.
Im Vorübergehen erspähe ich die feierlich geschminkte Barbara W. aus der Kreuzberger Wohngemeinschaft, die zur Unternehmensberaterin aufgestiegen ist. Und ist das nicht Lizzy K., die Entwicklungshelferin, die neulich beim Bewerbungsgespräch in der Tiergartener WG durchgefallen ist? Doch wo bleibt eigentlich der „Spree-Kurier“ in Richtung Köln? Geplante Abfahrt: 18.55 Uhr.
Das scheint auch der Bahnhofsansager langsam spitzbekommen zu haben. Und so versüßt er uns von nun an die Wartezeit, die Stimme klar und fest, mit wechselnden Plattformbotschaften: „Bitte achten Sie auf Ihr Handgepäck!“ Stimmt schon, einige komische Typen lungern hier herum. „Frau Ehrhardt“ ruft er aus, später „Herrn Karcher“, noch später weitere, die sich alle an Bahnsteig 3 und (!) 4 melden sollen. Und immer wieder warnt er prophylaktisch: „Vorsicht an Gleis 3 bei Einfahrt des Zuges! Bitte treten Sie von der Bahnsteigkante zurück!“ Aber erst nachdem wir vier- oder fünfmal zurückgetreten sind (seit dem ersten Aufruf sind bestimmt 15 Minuten vergangen), schwebt der längst überfällige „Blaue Engel“ ein und entläßt die Reisenden aus Richtung München.
Fahrplanmäßig verwandelt sich der „Blaue Engel“ in den „Spree- Kurier“ mit dem Ziel Köln. „Nicht einsteigen!“ befiehlt der Ansager jetzt im aufgeregten Kommandoton, „der Zug muß erst gereinigt werden.“ Frösteln wir halt draußen weiter. Es dauert. Plötzlich, ohne jede Vorankündigung, pff-pff, öffnen sich die Türen, und wir dürfen Platz nehmen. Das heißt, nur die, die eine Reservierung haben. Heute ist der als „Funktionärsbomber“ und „Beamtenschleuder“ titulierte ICE bunt gemischt. Wenig Schlipse mit Aktenköfferchen, viel kleidungsmäßig Informelles.
„Jetzt geht's lo-hos! Jetzt geht's lo-hos!“ frohlocken einige Mitreisende, als der ICE loszottelt. „Meine Damen und Herren! Der nächste Halt ist Hannover. Dieser Zug hält nicht in Berlin-Wannsee, Magdeburg und Braunschweig“, vermeldet unser Zugführer. Scherzkeks! Denn der nächste Halt – wir haben immerhin schon 1,5 Kilometer Strecke gemacht – ist Berlin-Charlottenburg. Der ICE steht und steht und steht, während auf dem Nachbargleis die erleuchteten S-Bahnen durchs Dunkel vorbeihuschen. „Die Weiterfahrt verzögert sich aufgrund einer Störung in der Weichenstellung um einige Minuten“, gibt der Zugführer kund. Das kratzt die Insassen allem Anschein nach wenig. Sie haben es sich gemütlich gemacht. Der rundherum Speckige, gähn, scheint versonnen von der Weihnachtsgans zu träumen. Und die niedliche Kleine ist ganz eins mit ihrem Gameboy. Ohn' Unterlaß zupft die schöne Hochaufgeschossene an ihrem Pony, während ihr Begleiter unter Verrenkungen eine – ungelogen! – 10 Zentimeter dicke Stulle mit Körnern verdrückt. „Wir haben zur Zeit leider sechzig Minuten Verspätung“, bedauert unser Zugführer mit aufrichtigem Unterton.
Erneut zuckelt der „Spree-Kurier“ los, um nach grob geschätzten 175 Metern Fahrt erneut zu verenden. Stop-and-Go wie auf der Autobahn, im Tempo der Schnecke. „Ob wir die Berliner Stadtgrenze heute noch erreichen?“ fragt sich halblaut der einzig vollseriös Gekleidete in der näheren Umgebung. „Ist heute nicht sein Tag“, antwortet der Langmähnige mit schwarzer Hornbrille. Gelächter. „Der Weg ist das Ziel“, deklamiert eine Frauenstimme hinter mir. Alles nickt. Keine der sonst so eilfertigen Schaffnerinnen mit der Lizenz zum Knipsen läßt sich blicken.
Inzwischen ist für immer mehr Reisende der Weg in den Mitropa- Speisewagen das Ziel. Dort herrscht schon vorweihnachtliche Volksfeststimmung. Gedränge und Geknuffe vor dem Thresen. Nein, keine Schokolade mehr, die Prinzenrolle ist auch aus. Ich ergattere das vorletzte Snickers. Ein Gehilfe, aus den Tiefen der Küche kommend, packt den letzten Schwung eingeschweißter, hauchdünner Scheiben Dresdner Christstollen („Mitropa wünscht Frohe Weihnachten“, steht drauf) hurtig in die Vitrine. Das letzte Dosenbier, stark eingedellt und lauwarm, wechselt den Besitzer. „Macht nichts!“ meint der Durstige mit dem Kennergriff.
Endlich läßt sich auch mal ein Schaffner blicken. Er wirkt schwer angeschlagen. „Wie lange haben wir Verspätung?“ begehrt die forsche Enddreißigerin zu wissen. Von wegen ihres Anschlusses nach Dülmen. „Weiß ich doch nicht, ich bin im Dienst! Gehen Sie zu meinem Chef!“ kontert der kleine Schnauzbart schlagfertig. „Und wie erkenne ich den?“ läßt die Naßforsche nicht locker. „An der roten Binde am Arm.“ Alle Achtung, der Schulungsunterricht der Deutschen Bahnen hat Früchte getragen.
Irgendwo zwischen Helmstedt und Königslutter ist der Siedepunkt der guten Laune erreicht. Zwei süße Milchbubis schießen sich gegenseitig mit Minikameras ab, bevor sie herzhaft in Blätterteigschnittchen beißen. „Ist da Sesam drauf?“ fragt die hackevolle Lily in der Tigerfelljacke von gegenüber. „Nö, Käse“, erwidert einer der Milchbubis. Der Stehtisch vor dem Thresen wird zum Stammtisch. „Ich arbeite beim Tagesspiegel. Und was machst du?“ „Ich bin in der Softwarebranche.“ Das gezapfte Bier, in Ermangelung von Gläsern in weiß-braune Pappbecher (Aufschrift: „In einem Zug“) ausgeschenkt, geht weg wie warme Semmeln.
„Der Zug hat zur Zeit siebzig Minuten Verspätung“, schaltet sich unser Zugführer wieder ein. Alles grölt. Doch wohl dem, der ein Handy hat! Denn mittlerweile ist die Schlange vor der gläsernen Telefonkabine durch den Gang, über das sich verschiebende Bindeglied zwischen zwei Waggons, durch den gesamten Bistrowagen bis kurz vor den Thresen angewachsen. 25 bis 30 Telefonierende in Hoffnung. Ihre Message wird immer dieselbe sein: „Hallo Siggi (Mutti, Kätzchen, Christian, Vatta), hier ist Sabine (Jens, Gisela, Olli, ich bin's). Der Zug hat siebzig Minuten Verspätung. Ja, sieb-zig!“ Dann geht es um voraussichtliche Ankunftszeiten und Abholmodalitäten. „Schöner Weihnachtsverkehr“, meint meine Schlangennachbarin augenzwinkernd. Neben der Telefonkabine, von der anderen Seite, beginnt sich eine zweite Schlange zu formieren. „Darf denn der ICE, bei dem Preis, so viel Verspätung einfahren?“ fragt ein junger Mann und fordert einen Taxigutschein vom Zugpersonal. Verstohlen nimmt ihn der Schaffner mit ins Dienstabteil, zweideutig grinsend kommt der junge Mann wenig später wieder raus.
Allerorten im „Spree-Kurier“ ist die Stimmung heiter bis ausgelassen. Im gemeinsamen Lamento über die sich akkumulierende Verspätung kommt man sich menschlich zügig näher („Übrigens,ich heiß' Jutta!“). Visitenkarten werden gezückt, Telefonnummern getauscht, Verabredungen getroffen („Fährst du auch am 2. Weihnachtstag wieder zurück nach Berlin?“). Nicht fahrplanmäßige Ereignisse werfen lange kommunikative Erlebnisschatten.
Hannover Hbf. Die Anzeigetafel untertreibt gnadenlos („ca. 45 Minuten später“), obwohl unser Intercity-Express doch 70 Minütchen Verspätung ein-gestanden hat. Für viele ist der Anschlußzug so spät abends definitiv abgefahren. „Reisende nach Goslar, Minden und Bad Pyrmont melden sich bitte beim Service-Point in der Haupthalle.“ Das verheißt nichts Gutes. Zurück im Großraumwagen, entdecke ich viele neue Gesichter. Neben mir sitzt nun, etwas raumgreifend, eine leicht angegraute Vollschlanke mit Gesprächsbedarf. Im zügig vorangetriebenen Frage-und-Antwort- Spiel finden wir diverse biographische Gemeinsamkeiten heraus. Geburtsort: Bochum, Volksschule in Wiemelhausen, Klassenlehrerin Frau Z., Konfirmation bei Pfarrer M. Wo sind wir denn hier? Ah, natürlich in Bielefeld. Hier steigen besonders viele bunte Vögel aus. Wiglaf Droste und Legionen anderer Bielefeld-Vertriebener (und Berlin-Zugereister) stammen aus der Seidensticker-Stadt.
Mit meiner gesprächigen Sitznachbarin endet alles, wie es enden mußte: im wechselseitigen Lüften der Identität. „Ich heiß' Günter E.“ „Und ich bin Birgit S.“ Das gibt's doch nicht! Fast dreißig Jahre nicht gesehen!
„Wir halten in Hamm. Hamm, Westfalen“, unterbricht uns der Zugführer vom Dienst. Die Ansage erscheint reichlich unmotiviert, denn wir stehen schon ein ganzes Weilchen ohne erkennbaren Grund hier in Hamm, Westfalen, rum. Dann erzählt mir Birgit, daß sie schon zweimal, in Karlsruhe und Hannover, die Bahnhofsmission zum Übernachten in Anspruch genommen habe. Dabei bekommt der schnieke Herr jenseits des Gangs ganz große Ohren. „Schöne Bescherung“, jammert er. Er müsse von Köln aus noch nach Gummersbach. Da komme er weit nach Mitternacht wohl nicht mehr hin, oder? „Bahnhofsmission Köln“, gibt ihm Birgit S., die studierte Theologin, tröstend noch mit auf den Weg, bevor wir in Bochum den „Spree-Kurier“ gemeinsam verlassen. Mit 75 Minuten Verspätung, aber rundherum glücklich. Eine Sternstunde der Deutschen Bahn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen