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Ständig auf Kirchenachse

Das Ehepaar Kuffel sammelt Kirchenbesuche. Dem Rat eines Geistlichen folgend, pilgerten sie für die kranke Schwester durch Europa und 18.000 Kirchen. Mit Erfolg  ■ Von Günter Ermlich

Manche Leute sammeln Sand, andere Puppen, wieder andere Schlüsselanhänger. Elisabeth und Alexander Kuffel sammeln Kirchen. Keine Modelle, sondern richtige. Exakt 18.000 Gotteshäuser haben die beiden Berliner in 18 Jahren besucht. Damit sind sie garantiert unübertroffen in dieser Sammlerbranche. Auch ohne Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde. Eigentlich wollten sie ja 20.000 Kirchen schaffen. Doch nach einem Unfall, Wirbelsäulenbruch von Herrn Kuffel, war Feierabend. Die Kirche „C÷urs du Jésus“ im südfranzösichen Lourdes wurde im Dezember 1994 ihre letzte Pilgerstation. Die 18.000ste. Ein würdiger Abschluß.

Die Kuffels, Elisabeth (75) und Alexander (82), sprühen vor Lebendigkeit, wenn sie in ihren Erinnerungen schwelgen. Wie die ganze Geschichte anfing? „Meine Schwester war sehr, sehr krank, lag im Sterben“, erzählt der redselige Herr Kuffel. „Das war 1976. Da hat uns ein Prälat gesagt: ,Besucht mal alle Kirchen in Berlin, und betet für die Schwester.‘ Wir haben alle 100 Kirchen in Berlin besucht.“ Der damalige Generalvikar sagte ihnen dann: „Mensch, macht doch weiter, so weit wie es geht.“ Sie befolgten den Rat des Geistlichen und kamen so zum Pilgern. Schon einen Monat später, während eines Urlaubs in Italien, kamen weitere 100 Kirchen hinzu. „Dann fingen wir an zu rechnen: Wenn wir in einem Monat 100 Kirchen besuchen, können wir 1.000 in einem Jahr schaffen.“ Aus dem Ernst des Gelübdes wurde eine handfeste Kirchenleidenschaft.

Eine glückliche Fügung, wie von oben bestellt. Denn erst ein Jahr zuvor, 1975, waren die Eheleute Kuffel in Rente gegangen. Sie hatten früher ein pharmazeutisches Laboratorium und einen Herstellungsbetrieb, „alles von Abführpillen bis zum Hustensaft“, sowie eine medizinale Fachdrogerie. Alexander, Pharmazeut d.D. und Apothekenhelferin Elisabeth a.D., hatten nun Zeit, ihren Lebensabend aktiv zu gestalten. Bis sie 1980 im bayerischen Altötting auf den Papst trafen, hatten die fleißigen Kirchenbesucher schon 4.000 Sakralbauten hinter sich. Allerdings nur katholische. „Besucht mir auch evangelische Kirchen“, gab ihnen der reisefreudige Papst mit auf den Weg. „Da haben wir gesagt, jawoll, das machen wir.“ Fortan wurde die Ökumene ihre wahre Pilgerberufung.

Mit den Kursbüchern der Deutschen Bahn stellten die Kuffels geostrategisch ihre Routen zusammen, mit dem Seniorenticket reisten sie kreuz und quer durch Europa. Immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln, meist im Zug, gelegentich im Bus, vor Ort per pedes. Wie sich das für richtige Pilger gehört. Jahrein, jahraus waren sie immer drei Wochen im Monat auf Achse, dann eine Woche in ihrer Zweizimmerwohnung in Berlin- Tiergarten. „Um die Post zu bearbeiten“, erklärt Herr Kuffel. Und um den nächsten Kirchentrip sorgfältig zu planen.

Immer, wenn die Eheleute Kuffel irgendwo ankamen, pilgerten sie geradewegs zu den Bürgermeistern. Meist unangemeldet. Als Türöffner dienten ihnen Empfehlungsschreiben der Politprominez, beispielsweise von Weizsäcker und Kohl, oder kirchlicher Hochwürdenträger wie dem früheren Berliner Bischof Sterzinski. In den Rathäusern erhielten sie Informationen und Lagepläne der Kirchen im Umkreis. „Wir haben die unheimlichsten Sachen erlebt, viel gute Sachen, aber auch viel schlechte“, erzählt Herr Kuffel aus heutiger Sicht. „Aber das Gute überwiegt“, schiebt Frau Kuffel in einer Sendepause ihres Mannes nach.

Es sprudelt aus Herrn Kuffel nur so heraus, Anekdoten zuhauf im Zeitraffer. „Wie wir im bayerischen Rosenheim ankommen, da sagt uns der Bürgermeister: Der Pfarrer hier geht nur klauen. In der Zeitung dort stand auch drin, daß der Monstranzen und Kelche klaut.“ Nächste Anekdote: „Ein evangelischer Pfarrer, ein sehr netter Herr, schreibt uns ein Dokument. Kommt seine Frau rein: Du, wo sind denn die Autoschlüssel? Der Pfarrer wußte gar nicht, was er sagen sollte, schon hatte er eine Backpfeife weg. In unserem Beisein!“ Noch 'ne Anekdote: „Eine Schlampe in Braunschweig, evangelische Pastorin. Barfuß, Schuhe in der Hand, schloddrige Haare, so hat sie eine Hochzeitsfeier abgehalten.“ Plötzlich hält Herr Kuffel inne: „Das ist langsam peinlich, die ganze Geschichte, was wir alles wissen. Wir wissen ja viel mehr als der Kardinal.“

Für die Kirchentouristen der Höhepunkt ohnegleichen: der Vatikan, ihre 10.000ste Station 1987. Hier wurden die beiden für ihr unermüdliches Pilgerdasein standesgemäß belohnt. Die Schweizer Garde holte sie vom Flughafen ab und fuhr sie direkt zum Petersdom. Dort wurde ihnen eine Wohnung im Nonnenkloster gegeben, gleich neben dem Vatikan. Dann die Audienz bei Papst Johannes Paul II. Die Kuffels überreichten dem Papst eine dicke Mappe mit ihren Pilgerdokumenten. Sichtlich angetan, ermunterte sie der Heilige Vater auf deutsch: „Macht weiter so!“,worauf Herr Kuffel auf polnisch antwortete: „Gelobt sei Jesus Christus!“

Die Zweizimmerwohnung der Kuffels ist ein Schatzkästlein voller Pilgererinnerungen. Archiv und Museum zugleich. Kreuze hängen an der Wand, eingerahmte Grußbotschaften von Franz Josef Strauß und dem polnischen Primas Glemp, Fotos von Kirchen mit den Kuffels darin oder davor. Die Ablagefläche des Wohnzimmerschranks ist gestapelt voll mit Schnellheftern. Bestätigungsschreiben von Bürgermeistern und Pfarrern. „Alles Dokumente, daß wir dagewesen sind“, erklärt Frau Kuffel. Ihre einzigartige Kirchenpassion ist lückenlos archiviert.

Fast ganz Europa haben die vitalen Rentner über den Umweg der Kirchenbesuche kennengelernt. Überwiegend Westeuropa, aber auch Osteuropa. Beim polnischen Primas Kardinal Glemp waren sie schon im März 1989 eingeladen. Im selben Jahr folgte der Bischof von Budapest. Im Laufe der Jahre und mit zunehmendem Alter reduzierten die Kuffels ihre Dosis von 100 auf 50 Kirchen im Monat. Die beeindruckendste Kirche? „Der Petersdom in Rom“, entfährt es Frau Kuffel sekundenschnell, „überhaupt die Kirchen in Rom. Und dann die bayerischen großen Barockkirchen, die lieben wir. Für die modernen sind wir weniger.“

Gotteshäuser sind für die beiden umtriebigen Berliner Pilger fürwahr nicht bloße Objekte der Besichtigung gewesen, Betstätten zum Abhaken, reine Zählkanditaten. „Wir sind in der Kirche groß geworden“, erzählt Herr Kuffel. In einer Betstatt, wo sonst wohl möchte man rückblickend fragen, lernten sich die beiden jungen Katholiken anno 1938 kennen. „Meine Frau war in der katholischen Jugend tätig, ich als Ministrant und später als Subdiakon.“ Diese Praxis kam ihnen Jahrzehnte später unterwegs zugute: Manchmal mußten sie in Kirchen assistieren, Kommunion austeilen und so weiter, „und im Petersdom habe ich sogar zu deutschen Pilgern predigen dürfen, am Grab des heiligen Petrus“, memoriert Herr Kuffel stolz.

Die Kuffels haben ein glückliches Rentnerdasein im passionierten Pilgerdasein erlebt. Befriedigend genug. Doch was das schönste ist: Ihr Gelübde wurde erfüllt. Die 1976 todkranke Schwester von Herrn Kuffel, ursprünglicher „Anlaß“ der Pilgerschaft, lebt immer noch. Sie hat von ihrem Wohnort Brüssel die kostpieligen Reisen der Berliner Verwandten finanziert.

„Von Kirche zu Kirche“, ein illustiertes Buch über die gesammelten Kirchenerfahrungen der Kuffels, ist in Vorbereitung. Es erscheint zunächst in Französisch und Flämisch.

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