piwik no script img

■ Dresdens Hygiene-Museum hat sich seit 1990 zu einem der wichtigsten Ausstellungsorte der neuen Bundesrepublik profiliert Von Ulrich ClewingHaus der Aufklärung

Die Idee, ein Hygiene-Museum zu bauen, hatte 1911 der Inhaber eines Mundwasserimperiums. 1930 wurde es eingeweiht. Heute gelingt es seinen Mitarbeitern trotz magerer Budgets, Menschen als Besucher zu gewinnen, die sonst niemals in Museen gehen.

Man hat es mit einer Sphinx verglichen, die „Klamotten aus dem Secondhand-Laden“ trägt. Oder mit einem Bungee-Springer, „pendelnd zwischen Sturz- und Höhenflug“. Klaus Vogel, der 41jährige Direktor des Deutschen Hygiene-Museums Dresden (DHMD), bemüht für sein Haus lieber ein anderes Bild. Er fühle sich bei seiner Arbeit manchmal wie „der Reiter beim Ritt über den Bodensee“. Der überquerte nachts das zugefrorene Binnenmeer. Erst als er sein Ziel sicher erreicht hatte, bemerkte er, welches Risiko er eingegangen war – woraufhin er auf der Stelle vor Schreck verstarb.

Tote hat es glücklicherweise noch nicht gegeben am DHMD. Die Vergleiche machen indes eines deutlich: Die Institution, die zu solch blumigen Umschreibungen animiert, läßt sich nur schwer einordnen. Über 70 auch bundesweit stark beachtete Ausstellungen seit 1990, dazu unzählige Vorträge, Tagungen und Diskussionsveranstaltungen – selbst eine Konzertreihe wie die „Dresdner Tage Neuer Musik“ gastiert dort. Und gerade hat die örtliche Programmillustrierte Sax das DHMD zum vierten Mal in Folge zum beliebtesten Museum der Stadt gewählt. „Wir sind ein multifunktionaler Ort“, sagt Klaus Vogel, „ein Universalmuseum.“ Ein Museum vom Menschen – und das ist einmalig in Deutschland.

Die Anfänge dieser musealen Wundertüte reichen zurück bis ins Jahr 1911. Auf Initiative des Fabrikanten Karl August Lingner („Odol“) fand damals in Dresden die 1. Internationale Hygiene-Ausstellung statt. Die Organisatoren der Schau – die über Seuchen wie Cholera, Typhus und Diphtherie informierte und Ursachen und Gefahren bakterieller Ansteckung aufzuklären versuchte – konnten sich über einen grandiosen Erfolg freuen: Innerhalb eines halben Jahres kamen über fünf Millionen Besucher. Im Jahr darauf entstand als erster Schritt zu einem eigenen Museum die ständige Ausstellung „Der Mensch“, außerdem wurden die „Lehrwerkstätten des Deutschen Hygiene-Museums“ eingerichtet.

1903 war in München von Oskar von Miller das Deutsche Museum gegründet worden. Dort wollte man dem Publikum spielerisch technische Neuerungen und Verfahrensweisen nahebringen. In Dresden sollte – strikt im Sinne der damaligen Reformbewegung – der Mensch, seine Anatomie und die Erhaltung seiner Gesundheit im Zentrum der Museumsarbeit stehen. Von 1919 an entwarfen Mitarbeiter des Museums in spe für Auftraggeber aus ganz Europa Wanderausstellungen, die Millionen Menschen interessierten.

Acht Jahre später folgte die Grundsteinlegung für den heutigen Museumsbau am Rand der Dresdner Altstadt. Am 16. Mai 1930 wurde das Deutsche Hygiene- Museum feierlich eingeweiht. Hauptattraktion war der „Gläserne Mensch“, das in den Museumswerkstätten hergestellte, überlebensgroße Modell eines (geschlechtslosen!) menschlichen Körpers, an dem per Knopfdruck Blutkreislauf und innere Organe elektrisch illuminiert werden konnten. Der gläserne Mensch, der im DHMD auch heute noch beschwörend die Arme hebt, diese Mischung aus Arzttraum und Menschmaschine – das war seinerzeit Moderne pur, Zeitgeist als Avantgarde: der gesunde Mensch als Wunsch und Wille aufgeklärter Mediziningenieure.

Die erste Blütezeit dauerte drei Jahre. Dann modelten die Nationalsozialisten das Museum zum Propagandaapparat für ihre rassenideologisch motivierte Sozialhygiene um. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das im Februar 1945 schwer beschädigte Gebäude notdürftig wieder aufgebaut und diente fortan als Nationalmuseum der Gesundung des DDR-„Volkskörpers“. Die Produktion des gläsernen Menschen wurde wieder aufgenommen – und nicht nur das: 1956 präsentierten die Dresdner das erste „Gläserne Pferd“, ein Jahr danach eine „Gläserne Kuh“, die auf der Weltlandwirtschaftsausstellung in Neu-Delhi für Aufsehen sorgte.

Mittlerweile wird in den Werkstätten nur noch das Menschenmodell verlötet, und auch das eher der Form halber. Ein rundes Dreivierteljahr dauert es, bis ein Mechaniker eine der transparenten Kunststoffiguren fertiggestellt hat. Das kann sich das Museum, das 1990 250 von ursprünglich 300 Mitarbeitern entlassen mußte, schlicht nicht mehr leisten. Zumal der „Gläserne Mensch“ intern durchaus umstritten ist. Einerseits verheiße er Kenntnis darüber, „wie es im Menschen aussieht“, andererseits, so Museumsdirektor Vogel, stehe die Figur stellvertretend für die Vision eines auch im übertragenen Sinne durchsichtigen Menschen – eine Vorstellung, die sich kaum halten läßt in einer Zeit, in der Forscher dabei sind, den menschlichen Gencode zu knacken – was im übrigen Thema einer der nächsten Ausstellungen sein wird.

Insofern ist der gläserne Mensch in doppelter Hinsicht ein Symbol: sowohl für die stolze Vergangenheit, als die Lehrmittel und Informationsausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums das Haus am Lingnerplatz 1 weltweit zum Synonym für gesundheitliche Aufklärung machten, als auch für die Gegenwart, die nach neuen Denkmodellen sucht. Das betrifft auch das Museum als solches. Seit das DHMD keine Nationaleinrichtung mehr ist, sondern dem sächsischen Sozialministerium untersteht (Vogel: „Ein Unikum in der deutschen Museumslandschaft“), verwenden das technische Personal und die zwölf festangestellten Wissenschaftler des Museums einen großen Teil ihrer Energie auf Krisenmanagement.

Die meisten Schwierigkeiten bereitet das Gebäude. Die Bausubstanz ist marode, das Dach undicht. Durch die Fenster pfeift der Wind, ein Gutteil der Räumlichkeiten steht leer oder kann nur unter feuerpolizeilichen Auflagen genutzt werden.

Zwar will das Land Sachsen in den nächsten Jahren rund 50 Millionen Mark für die Sanierung des Hauses bereitstellen, doch ist die massige, um einen Innenhof gruppierte Zweiflügelanlage von Wilhelm Kreis ein monumentales Groschengrab. Allein die Heizungsrohre, die dringend ersetzt werden müßten, sind aneinandergereiht rund zwölf Kilometer lang. Deshalb hat man die Feiern zum siebzigsten Jubiläum der Grundsteinlegung im vorigen Jahr ausfallen lassen, denn „da gibt es nichts zu feiern“ (Vogel).

So ist das Deutsche Hygiene-Museum derzeit vor allem ein Museum im Konjunktiv. Wäre, hätte, würde – wenn erst einmal die Sanierung abgeschlossen sein wird, etwa im Jahre 2002, dann könnte man auch die neue ständige Ausstellung mit dem so schlichten wie anspruchsvollen Titel „Der Mensch“ bewundern, an der im Moment noch intensiv laboriert wird. Bis dahin, so Vogel, „spielen wir funktionierendes Museum“.

Wer so viel Probleme hat, muß sich etwas einfallen lassen. Das tun sie am DHMD immerhin recht erfolgreich. Besonders die Sonderausstellungen, die das Museum aus seinem 9-Millionen-Budget und mit Hilfe von Sponsoren finanziert, sichern dem Haus überregionale Aufmerksamkeit. Die Themen haben sich freilich geändert. Wo zu DDR-Zeiten die Comicfigur „Kundi“ Kindern die richtige Methode des Zähneputzens beibrachte und bei Nichtbeachtung die Ausspionierung durch den „Gesundheitskundschafter“ androhte, da konzipieren die Kunstwissenschaftler, Mediziner, Biologen, die Soziologen und Ethnologen des DHMD nun Ausstellungen wie „Darwin“, „Die Geschichte der Abtreibung“ oder „Sitzen“, eine soziologische „Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft“.

Darüber hinaus hat das Museum ein Netzwerk von internationalen Wissenschaftsbeiräten aufgebaut; das museumseigene „Forum Gesundheit und Umwelt“ bietet Projekttage in sächsischen Schulen an und richtet Telefonberatungen ein zu Fragen wie „Sind unsere Nahrungsmittel gesund?“, „Schadstoffe in Innenräumen“ oder „Mobbing am Arbeitsplatz“. Der studierte Volkskundler Vogel sagt dementsprechend: „Wir sind kein rein medizinisches Museum.“

Man hält sehr modern auf Interdisziplinarität. Zum Beispiel bei der Ausstellung „Herz – das menschliche Herz, der herzliche Mensch“. Abgehandelt wurde bei diesem Projekt zweierlei. Einmal, traditionell, das Organ und seine Funktionsweise, dann aber auch das Herz als literarische Kategorie, das „den Menschen als fühlendes Wesen“ vorführen sollte. Das Museum als Anstalt mit moralischem Anspruch? Vogel vorsichtig: „Wir drücken uns nicht vor ethischen Fragen.“

Auf dem Rundgang durch das Museum begegnet man auch einem Architekturmodell. 1992 wurde ein Wettbewerb für die Erweiterung des DHMD ausgeschrieben, den das renommierte österreichische Architekturbüro Coop Himmelb(l)au gewann. Da steht es nun, das Hygiene-Museum der Zukunft, mit seinem dekonstruktivistischen Anbau im Innenhof, seinen kühnen Schnitten durch die Seitenflügel.

Auf 200 Millionen Mark ist der Umbau veranschlagt – eine Summe, die das Vorhaben allerdings in weite Ferne rücken läßt. Aber das heißt nicht, daß es dadurch unmöglich geworden wäre. Zu der konjunktivischen Verfaßtheit des DHMD gehören auch gute Hoffnung und der Glaube an großzügige Geldgeber.

Das nächste Großprojekt steht für 1999 an, wenn Vogel und seine Mitarbeiter sich die Utopie des „Neuen Menschen“ vorknöpfen, wie sie durch die Ideologien dieses Jahrhunderts geisterte. Das wird die Gelegenheit sein, auch die eigene Geschichte Revue passieren zu lassen. So schließen sich Kreise. Vielleicht haben bis dahin auch die Dresdner Stadtoberen ihre Sicht auf das DHMD überdacht. Bisher spielt das Museum für sie kaum eine Rolle, zu übermächtig, weil schmückender, erscheint der Wiederaufbau der barocken Puppenstube in der Altstadt oder vielmehr dessen, was man heute darunter versteht.

In Dresden, sagt Klaus Vogel, „hatte es die Moderne schon immer schwer“.s

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen