■ Die Arbeitslosigkeit in Deutschland verzeichnet einen Negativrekord. In Frankreich auch. Während die Basis hierzulande allenfalls ein wenig lamentiert, gehen Frankreichs Arbeitslose seit Wochen wütend auf die Straße.: Revolten aus dem Abse
Die Arbeitslosigkeit in Deutschland verzeichnet einen Negativrekord. In Frankreich auch. Während die Basis hierzulande allenfalls ein wenig lamentiert, gehen Frankreichs Arbeitslose seit Wochen wütend auf die Straße.
Revolten aus dem Abseits
Auf beiden Seiten des Rheins sind längst historische Rekorde bei der Arbeitslosigkeit erreicht, sowohl in absoluten Zahlen – die in Frankreich bei 3,1 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen und in Deutschland bei 4,52 Millionen liegen – als auch in den Prozenten, die in Frankreich bei 13, in Deutschland bei 11,8 liegen. Selbst die Tendenz bei der Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist ähnlich, nämlich steigend. Wenngleich Frankreich im vergangenen Jahr „nur“ 10.000 zusätzliche Arbeitslose produziert hat, während es in Deutschland 379.000 waren.
Tatsächlich bestätigt der Arbeitsmarkt der beiden Länder eine Parallelität der Entwicklung, die sich im Zuge der europäischen Integration längst auch in anderen Wirtschaftsbereichen zeigt: beim langsamen, aber immerhin wieder positiven Wirtschaftswachstum, bei den Inflationsraten und bei den Staatsverschuldungen. Aber auch bei den Nettoeinkommen, die in beiden Ländern im vergangenen Jahr sanken und damit die nationale Kaufkraft schwächten.
In krassem Gegensatz zu dieser wirtschaftlichen Konvergenz dies- und jenseits des Rheins steht der politische Umgang damit. Vor allem der der Basis, die in diesen Wochen wieder einmal in Frankreich auf den Straßen ist, während sie in Deutschland in der Zaungastposition verharrt und allenfalls ein bißchen über ein „Ende der Bescheidenheit“ bei den Lohnverhandlungen diskutiert.
Die Franzosen reagieren anders als ihre deutschen Nachbarn. Wenn ihnen der Kragen platzt, gehen sie nicht an den Verhandlungstisch, sondern auf die Straße. In den letzten vier Jahren brachten sie auf diese Art mehrere politische Projekte und manchmal ganze Regierungen in Paris zu Fall. Im Winter 1994 sorgten Hunderttausende von demonstrierenden Schülern und Studenten gegen die Einführung eines Mini-Mindestlohns für Jugendliche, die der damalige konservative Regierungschef Edouard Balladur vorgeschlagen hatte. Ein Jahr danach legte der öffentliche Dienst das ganze Land für drei Wochen mit einem Streik lahm, um eine Reform der Sozialversicherung zu stoppen. Wieder ein Jahr später gingen Hunderttausende von Franzosen auf die Straße, um besonders repressive Teile eines neuen Einwanderungsgesetzes zu verhindern. Und in diesem Winter kamen schließlich die Arbeitslosen, die ihre Besetzungen und Demonstrationen taktisch sehr geschickt in der Weihnachtszeit plazierten. Ihren Forderungen nach einem garantierten Mindesteinkommen für alle Arbeitslosen, auch für jene, die wie die unter 25jährigen noch nicht in der Statistik vorkommen, und nach einer Jahresendprämie für alle Arbeitslosen verliehen sie so um so mehr Gewicht.
Freilich sind diese Wutausbrüche nicht völlig spontan. In allen Bereichen ging ihnen jahrelange Vorarbeit einzelner Aktivisten voraus. Im Falle der Arbeitslosen bemühten sich einzelne Gewerkschafter aus der kommunistennahen CGT, aus der sozialdemokratischen CFDT und aus der trotzkistennahen SUD seit Jahren um den Aufbau eigener Strukturen. Und waren bis jetzt noch stets an der Übergangssituation der Arbeitslosigkeit gescheitert.
Wenn sie ausbrechen, haben die französischen Protestbewegungen regelmäßig den Charakter von Revolten, die aus dem Abseits kommen. Und mit schöner Regelmäßigkeit hat niemand im Establishment ihr Kommen vorhergesehen. Weder Frankreichs sensible Intelektuelle noch die Politiker, noch die Gewerkschaften. Mit derselben Regelmäßigkeit wie dieser Überraschungseffekt wiederholte sich auch die Reaktion der jeweiligen Regierungen in Paris: Zuerst warten sie ab. Dann versuchen sie es mit Repression. Dann machen sie einen Rückzieher.
Im französischen Volk hingegen können soziale Proteste in der Regel schneller mit positiven Reaktionen rechnen. Das war besonders auffällig im Winter 1995, als ein ganzes Volk wochenlang beinahe ohne Murren zu Fuß ging, während die Minderheit der Beamten streikte. Damals, wie auch jetzt bei der Arbeitslosenbewegung, geht die schweigende Mehrheit davon aus, daß die Proteste auch in ihrem Interesse sind.
Die Stärke der französischen Revolten liegt unter anderem in der Schwäche der Institutionen des Landes, wo weder die Parteien noch die zahlreichen Gewerkschaften über eine starke Mitgliederbasis verfügen. Die meisten Parteien sind vor nicht allzu langer Zeit von einzelnen Männern als Wahlbündnisse gegründet worden. Und die ohnehin mitgliederschwachen Gewerkschaften verbrauchen einen großen Teil ihrer Energie im Konkurrenzkampf untereinander. Außerdem hat Frankreich nicht annähernd dieselbe soziale Kohäsion, wie sie in Deutschland mit jahrzehntelangen sozialpartnerschaftlichen Übungen einstudiert wurde.
Die Folgenlosigkeit der nationalen Versprechungen gehört zu den Gründen, die Frankreichs Arbeitslose auf die Straße gebracht haben. Zugleich taten sie das in einer Situation, in der fast alle Parteien der Linken an der Regierung sind. Dahinter steckt zwangsläufig die Frage: Wenn diese Regierung nicht in der Lage ist, eine andere Arbeitsmarktpolitik zu machen, welche dann? Dorothea Hahn
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