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Die kleinen Strolche

An schönen Reden über Krieg und Gewalt mangelt es nicht. An Kenntnissen über die unschöne Realität aber leider sehr. Ein Plädoyer für genaues Hinsehen nebst Hinweisen auf Gewaltdarstellungen des Barock  ■ Von Thomas Wörtche

Es war Ende der 70er Jahre. Vier stramme, aufstrebende Philosophen redeten sich nächtens in der Kneipe die Köpfe heiß über Bohrers „Ästhetik des Schreckens“. Auf dem Heimweg kam die kalte Dusche in Gestalt von zwei 16jährigen Lümmeln, von denen sie jämmerlich Prügel bezogen. Einfach so. Der peinliche Vorfall geriet in die Zeitung. Auf die Frage, warum sie den kleinen Strolchen nicht einfach ein paar auf die Backen gegeben hatten, murmelten sie indigniert: „Die wollten gar nicht darüber reden.“

In den „herrschaftsfreien Diskurs“, so lernen wir daraus, paßt „Gewalt“ allenfalls als ästhetische Kategorie. Und in verschiedene „Diskurse“ mit geringer öffentlicher Beteiligung kastelte man Themen wie „Gewalt“ und „Krieg“ in (West-)Deutschland tatsächlich jahrzehntelang ein. Das war einerseits erfreulich, weil es die zutiefst pazifistische Grundeinstellung dieser Gesellschaft anzeigte, andererseits praktisch, weil man solche beängstigenden Dinge nicht konkret bereden mußte, sondern abstrakt (als „Funktion“) verhandeln durfte. Zum Beispiel ließen sich Staatsgewalt und Terrorismus in den 70ern zu einer Debatte über „legitime“ Gewalt theoretisieren; die internationale Großwetterlage (Kalter Krieg, Imperialismus etc.) gab den sicheren Boden für die Empörung über Vietnamkrieg, Lateinamerika, „Stellvertreter“- Kriege; und die von den Soziologen erkannte „strukturelle Gewalt“ tat nicht körperlich weh und war jedenfalls ein schönes Forschungsziel.

Die Friedensbewegung in den 80ern war größtenteils fundamentalpazifistisch und aus Prinzip desinteressiert daran, „wie Krieg geht“. Nur eine Minderheit wollte das genauer wissen und eignete sich militärtechnologisches Fachwissen an, aus wirklichem Bedürfnis nach friedlicher Konfliktvermeidung und -lösung – und um gegen offizielle „Fachleute“ argumentieren zu können. Inzwischen hatte allerdings die „geistig-moralische“ Wende stattgefunden. Deren gesellschaftspolitische Signaturen seit 1982 – Privatisierung von Gewinnen, Vergesellschaftung von Verlusten – wurden peu à peu fühlbar, bevor ihre Konsequenzen in den 90ern voll erblühten. Sichtbar allerdings wurden sie schon in den rauher werdenden 80ern: Fußball-Hools, Glatzengangs und die AKW-Schlachten waren der handfeste Vorschein eines Klimas, das sich nach dem Fall der Mauer erst richtig entfalten sollte. 1989 und das Ende des Kalten Krieges brachten plötzlich den „heißen“ wieder sehr nahe – siehe Jugoslawien. Brennende Häuser statt blühender Landschaften machten „Gewalt“ in der gesamtdeutschen Gesellschaft unverdrängbar. Innere Gewalt mutierte zum Slogan „Innere Sicherheit“, die multimediale „moral panic“ erschuf die Wahlkampfthemen „Ausländer“ und „(Russen-)Mafia“. Man knabberte endlich erfolgreich am Grundgesetz.

Äußere Gewalt (der 2. Golfkrieg) ließ sich auslagern in medienphilosophische Spekulationen über das Verschwimmen von Fake und Fakten. In den Bildern von Gewalt und Krieg gingen allmählich Gewalt und Krieg unter. Völlig berechtigte Medienkritik mutierte zu einer Schlacht um die Macht über die Bilder: Wer hat die Interpretations- und also die Verfügungshoheit über die Wirklichkeit? Die hinter den Bildern liegende Realität schien irrelevant und diente lediglich als Kommunikationsmittel. Aber natürlich ging sie in all ihrer Scheußlichkeit davon nicht weg. Die Diskussion zerfleddderte in zwei „Bearbeitungstypen“: Auf der einen Seite „Medienphilosophen“, die ihre Thesen vom „Verschwinden der Wirklichkeit“ („kategorialer Unsinn“, wie der Jenenser Philosoph Gottfried Gabriel neulich knapp urteilte) verkündeten. Auf der anderen Seite eine irritierte, im besten Fall in „Betroffenheit“ festgefahrene Öffentlichkeit.

Die Wehrmacht-Ausstellung und ihre publizistischen Vorläufer sowie die Goldhagen-Debatte stießen (überraschend?) auf ein riesiges Bedürfnis, über „Krieg“ und „Gewalt“ zu kommunizieren. Über den Umweg der „Historie“ wurden diese Themen erstaunlich diskutabel. Debatten konnten potentiell zunehmend konkreter geführt werden. Spezialdiskussionen gab es zwar immer, jetzt aber stiegen die Multiplikatoren ein. In Medien, die das Thema vor zehn Jahren nicht mit der Kneifzange angefaßt hätten, beschäftigt man sich mit Gewalt und Musik, Gewalt und Kriminalroman, Gewalt auf der Straße, warum ist der Mensch aggressiv und so weiter.

Statt diesen Trend voreilig zu einer Modewelle wie jede andere zu erklären, sollte man ihn als Faktum festhalten und ernst nehmen. Denn die Bilder von Krieg und Gewalt haben durchaus keine Wirklichkeit zum Verschwinden gebracht, sondern eine neue Wirklichkeit geschaffen: die der Angst vor Gewalt. Die wiederum funktioniert unabhängig davon, wie „real“ oder „irreal“ die Bilder von Gewalt sind. Und weil diese Angst, wie alle Affekte, politisierbar ist und mit Fleiß politisiert wird, ist es unverantwortlich, Kategorien wie „richtig und falsch“, „wahr und unwahr“ aufzugeben.

„Gewalt“ ist ein Thema, das wie kaum ein anderes das bloße Rumhantieren mit Begrifflichkeiten als belanglos enttarnt. Der „blutige Ernst“ des Gegenstandes pfeift auf bloß elegante Ansatzpunkte, köstliche Provokation, gepflegten Zynismus oder anderes rhethorisches Spielgeld. Er verlangt nach analytischer Schärfe und Erklärungspotenz. Nur so läßt sich ein Korrektiv zum politischen Schaden aufbauen, der durch ein ganzes Set von Simplifikationen entstanden ist und täglich entsteht.

So paradox es sich anhört, Vereinfacher schätzen opulente Verkleidung. Die zur Zeit vielbeachtete „anthropologisch“ argumentierende Arbeit von Barbara Ehrenreich, „Blutrituale“, ist so ein Fall. Eine Generalthese – Krieg leite sich vom urgeschichtlichen Trauma des homo sapiens her, Beute von Raubtieren zu sein – soll alles „erklären“: Bosnien, die leichte Infanterie, Adolf Hitler usw. Das Buch wimmelt von schlichten Fehlern; Fakten und Komplexionen werden gebeugt; Schlußfolgerungen geraten entsprechend lächerlich. Der Diskurs selbst klingt anspruchsvoll amüsant – und führt in die Leere.

Aber auch die Antithese zu Ehrenreich kann zur prekären Vereinfachung führen. Zum Beispiel der „szientistische“ Ansatz von John Keegans zehn Jahre altem Klassiker „Die Maske des Feldherrn“, den man jetzt auf deutsch lesen kann. Krieg wird hier mehr oder weniger auf „technische“ Aspekte innerhalb der jeweiligen Kontexte reduziert, aber immerhin: Keegans „Feldherrn“-Porträts bieten interessante Details über die Pragmatik von Krieg. Nur schneiden sie jede Reflexion über das „Wozu?“ und „Wieso?“ viel zu früh ab.

Seine Nachschrift zum 2. Golfkrieg und der Rolle, die George Bush dabei spielte, sitzt genau der medialen Inszenierung von Krieg und Gewalt auf, an der sich die Medienkritik entzündete. (Bush erscheint dort als souveräner „Feldherr“.) Ehrenreich tut so, als sei Krieg eine Veranstaltung mäßig strukturierter, individueller „Gewalt“-Explosion, gemäß ihrer Basisformel. In Keegans Buch verschwindet der einzelne Gewaltakt hinter der hochorganisierten Superstruktur „Krieg“.

Die überwältigende Mehrheit der Menschen in diesem Land hat keine persönlichen Erfahrungen mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt. Wir kennen meist nur deren „Fiktionen“ – und sind, soweit es um Historisches geht, sowieso auf Quellen aller Art angewiesen. Deswegen ist es eine Alternative zu Begriffverwirrung, falscher Unmittelbarkeit und Vereinfachung, sich die diversen Inszenierungen von „Krieg“ und „Gewalt“ in den Vermittlungsmedien präzise anzuschauen.

Ein Buch ausgerechnet über das Barock zeigt sehr anschaulich, wie so was funktionieren könnte. Denn die Herausgeber und Autoren des Bandes „Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert“ führen in meist klugen und kompetenten Analysen vor, wie „reale“ Gewalt in die Text- und Bildwelten Einzug hält (oder auch nicht) und wie mühselig und problematisch es sein kann, aus diesen Bild- und Textwelten das zu rekonstruieren, was wir für den aktuellen Gebrauch darüber wissen müssen. Wie die Darstellungsmittel ihre eigene Bedeutung, ihre eigene Semantik haben und wie mißverständlich das Dargestellte ankommen kann, wenn man die Inszenierungsverfahren nicht kennt, zeigt zum Beispiel Andreas Merzhäusers hervorragender „Simplicissimus“-Aufsatz. Er weist nach, wie sich die ästhetische Kategorie des „Schrecklichen“ aufgrund realer Lebenserfahrung so verwandeln kann, daß die „Wirklichkeit“ eben nicht hinter der Kategorie verschwindet, sondern um so deutlicher hervortritt.

Das genauso brillante Gegenstück von Moritz Bassler über die barocke Lyrik hingegen zeigt, daß sich dort die ästhetische Kategorie – im Primat des Formalen – noch behaupten kann und die Lebenswirklichkeit hinter der Kategorisierung unsichtbar bleibt. Das sind nicht nur Erkenntnisse über das Barock. Sie können als Plädoyer dafür dienen, die aktuelle, notgedrungen medial vermittelte Diskussion über prekäre, emotional und politisch leicht zu manipulierende Themen wie „Gewalt“ mit der nötigen Skepsis und dem Bewußtsein für ihre Komplexität zu führen. Gewalt ist ein Thema, das sich fatal schnell ideologisieren läßt. Ist das erst mal gelaufen, kriegen wir alle eine aufs Maul. Wie unsere strammen jungen Philosophen.

Markus Meumann, Dirk Niefanger (Hg.): „Ein Schauplatz herber Angst“. Wallstein Verlag, Göttingen 1997, 272 Seiten, 48 DM

John Keegan: „Die Maske des Feldherrn“. Beltz Quadriga, Weinheim 1997, 523 Seiten, 68 DM

Barbara Ehrenreich: „Blutrituale“. Kunstmann Verlag, München 1997, 328 Seiten, 42 DM

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