Nationaler Islam mit freundlichem Gesicht

Die türkischen Generäle wollen den Islamisten den Garaus machen: Durch das Verbot der Wohlfahrtspartei, aber auch durch Instrumentalisierung der Religion für die eigenen Zwecke. Eine Abkehr von Atatürk  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Durch das Verbot der Wohlfahrtspartei vor einer Woche ist dem politischen Islam in der Türkei ein schwerer Schlag versetzt worden. Doch Repression ist nicht das einzige Mittel der Staatsschützer. Die unermüdlichen Strategen im Generalstab kommandieren nicht nur Panzer, sondern haben bereits Jahre zuvor Theologen und Religionssoziologen geladen, um sich zu informieren und Öffentlichkeitsstrategien zu erarbeiten. Zum weiteren Schlag gegen die Islamisten wird nun mit einer Palette von Integrationsmechanismen ausgeholt. Die Religion, die über Jahrzehnte der Islamist und Vorsitzende der Wohlfahrtspartei, Necmettin Erbakan, zum politischen Mittelpunkt der Propaganda machte, wird nun als Gegengift gegen den politischen Islam instrumentalisiert.

Noch nie waren Fragen der islamischen Religion in den Medien und der Öffentlichkeit so populär wie heute. Seit Wochen strahlen die großen Fernsehsender Programme und Diskussionsrunden rund um den Islam aus. Kein Tag vergeht ohne eine Sendung über Koran, Suren und die Gebote der Frommen – egal ob die Rolle der Frau oder die richtige Gebetsform diskutiert wird. Theologen treten auf und erklären, daß Gebete nicht nur auf arabisch, sondern auch auf türkisch stattfinden dürfen.

Das staatliche Amt für religiöse Angelegenheiten hat plötzlich die Frauen entdeckt. Sie dürften beim Freitagsgebet und bei Beerdigungsgebeten mitbeten, erklärt der Vorsitzende des Amtes, Mehmet Nuri Yilmaz. Prompt veröffentlichten türkische Zeitungen Bilder von Frauen, die in Moscheen beten. Im Christentum könnten schließlich Frauen und Männer gemeinsam in die Kirche gehen, entdeckt die für Familie zuständige Staatsministerin Isilay Saygin.

Das Amt für religiöse Angelegenheiten will alsbald weibliche Bildungsexperten anstellen. Der für die Behörde zuständige Staatssekretär Hüsamettin Özkan erkärte, ein neuer Koran-Kommentar sei in Auftrag gegeben worden.

Auch die Wiedereinführung des Gebetsrufes auf türkisch, statt auf arabisch ist in der Diskussion. Rating-Star im Fernsehen – er bringt höhere Einschaltquoten als Popstars – ist der Dekan der Theologischen Fakultät Istanbul, Yașar Nuri Öztürk, der es an einem Abend schafft, gleich in mehreren Fernsehsendern aufzutreten. Öztürk, der den Gläubigen empfiehlt, ausschließlich den Koran zur Richtlinie zu erheben, und mit historischen „Mißinterpretationen“ bricht, kommt beim Publikum an. Denn der gelehrte islamische Theologe hat nichts von einem islamistischen Fanatiker. Der Familienvater ist mit einer Frau verheiratet, die weder Schleier noch Kopftuch trägt. Die große, antiislamistische Tageszeitung Hürriyet widmete jüngst dem „Syndrom Öztürk“ ihre Schlagzeile auf Seite 1. 36 Bücher, ein Teil mit Millionenauflagen, hat Öztürk bislang veröffentlicht, in denen er einen modernen, reformierten, türkischen Islam präsentiert. Die bürgerlich-liberale Tageszeitung Yeni Yüzyil frohlockte jüngst: „Die Türken werden den Islam, der von den Arabern und Iranern mit Terror befleckt wurde, mit einem freundlichen Gesicht in das 21. Jahrhundert tragen.“

Die Republikgründer unter Mustafa Kemal (Atatürk) vollzogen den radikalen Bruch mit dem Islam, indem sie die säkularen Nationalstaaten Europas kopierten. Bereits in der ersten türkischen Verfassung heißt es, die Souveränität liege bei der Nation. Das nationale Erziehungssystem nahm der Geistlichkeit den entscheidenden Einfluß im Bildungsbereich. Ein guter Teil der kemalistischen Bürokratie und des Militärs war religionsfeindlich eingestellt. Der Islam sollte nicht reformiert, sondern aus dem öffentlichen Leben verbannt werden.

Das Vakuum, das die Republikgründer hinterlassen haben, füllte der politische Islam in den vergangenen Jahrzehnten auf. Der inzwischen verstorbene Ministerpräsident Turgut Özal arbeitete als erster Politiker an einer Revision des „harten Laizismus“, ganz nach dem Geschmack der türkischen Massen. Özal pilgerte einerseits nach Mekka, andererseits trank er öffentlich Alkohol. Die in der Politik tonangebenden Militärs haben heute den Reiz von Özals Projekt begriffen. Ein neuer, türkischer Islam wird entworfen. Dagegen stehe der „arabische Kulturimperialismus“, der den eigentlich „modernen, fortschrittlichen“ Islam „reaktionär“ umgewandelt habe.

Während das Regime die Wohlfahrtspartei wegen Verstoßes gegen den Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, verbietet, formen die Staatsideologen an der Ausarbeitung einer islamischen Staatsreligion. Repression gegen Islamisten geht einher mit religiöser Integration. Ob der politische Islam beiden Attacken standhalten kann, ist offen. Gerade weil der nun vom Staat gepuschte „reformierte Islam“ mit kulturpolitischer Alltagspraxis in der Bevölkerung korrespondiert, könnte sich für Erbakan und die Seinen letztere Attacke als gefährlicher erweisen als das Verbot seiner Partei.