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Eine Todesmaschinerie und ein Zufall

■ Arkadij Gurewitsch erzählt in „Singende Pferde“aus seiner Kindheit im Konzentrationslager

Kein Pferd hat je ein KZ betreten. Geritten sind die Nazis immer nur bis vor das Tor. Dahinter haben sie Menschen ins Geschirr gespannt. „Singende Pferde“wurden diese Menschen genannt, weil sie, während man sie unter Peitschenschlägen andere Häftlinge zur Gaskammer ziehen ließ, laut zu singen hatten. Singende Pferde – eine Jugend im Konzentrationslager.

Arkadij Gurewitsch war noch nicht dreizehn Jahre alt, als die deutschen Truppen seine Heimatstadt Riga überfielen und das Leben aller Juden der Stadt vernichteten. Weniger als fünfzig Tage haben die Deutschen gebraucht, um das Ghetto, in dem sie die Juden wie Vieh zusammengepfercht hatten, zu „liquidieren“. Während dieser „Aktion“wurden 28.000 Menschen ermordet. Unter ihnen Arkadijs Vater, die Mutter und seine neunzehnjährige Schwester Paula. Arkadij Gurewitsch selbst wurde ins Rigaer Zentralgefängnis, von dort in die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald verschleppt. Wie alle anderen seiner Leidensgenossen hat man ihn auf jede unvorstellbare Weise gequält, gefoltert und verhöhnt. Daß er überlebt hat, das ist, so sagt er immer noch ratlos und bestürzt, nichts anderes als ein Zufall.

Bevor der 69jährige über die entsetzlichen Schrecken dieser Zeit sprechen kann, hat er ein Beruhigungsmittel nehmen müssen. Jeder Satz, jedes Bild der Vergangenheit ist für ihn eine Qual. Wie es war, als er 1965 mit der Arbeit an seinem Buch begann, und wie er für die nächsten sieben Jahre seine Erinnerungen noch einmal bis zur traumatisierenden Vergegenwärtigung aushalten mußte, darüber erzählt er nur wenig. Noch im Konzentrationslager hat ein Freund ihm das Versprechen abgenommen, im Falle des Überlebens von dieser Hölle zu berichten.

Ratten, die sich durch die Leichenberge fressen, die Gesichter in der Kinderbaracke, Wettrennen, mit denen völlig entkräftete Menschen über Stunden in den Tod gehetzt wurden – einfach weil die Gaskammer eine Woche lang defekt war und die Lagerkommandanten mit dem Töten nicht schnell genug nachkamen.

Mit seiner szenisch-knappen, eindringlichen Sprache – erzählt wird aus der Perspektive eines Jungen, der am Tage seiner Befreiung sechzehn Jahre alt war – umreißt das Buch, das im Hamburger Ergebnisse Verlag erschienen ist, Stationen der Tortur. Es sind Situationen, deren wirkliches Grauen jede sprachliche Vermittlung, jedes Bild unendlich übersteigt. Und darauf weist das Buch seinen Leser immer wieder hin. Gerade im „sprunghaften“Gang seiner Erinnerungen. „Vergleiche ich“, heißt es im Vorwort, „das von mir Geschriebene mit dem real Durchlittenen, so scheint es mir harmloser, kürzer, einfacher. Das Leben damals war viel tragischer, länger, qualvoller, als ich es darzustellen vermag.“

1993 hat Arkadij Gurewitsch seine lettische Heimat verlassen. „An einem einzigen Tag“, sagt er und eilt aus dem Zimmer. Wenig später kommt er mit Fotos zurück. Sie zeigen Männer in SS-Uniformen. Man begeht offiziell den 50. Jahrestag der Gründung der lettischen SS-Verbände. „Ich konnte das nicht aushalten.“

Arkadij Gurewitsch lebt, nach einem Zwischenaufenthalt in Kalifornien, seit vier Jahren mit seiner Frau, zwei Kindern und fünf Enkeln im Hamburger Stadtteil Wandsbek-Gartenstadt. Er hat, sagt er, „vor nichts mehr Angst“. Und er will kämpfen. Für das lebendige Erinnern und ein menschliches Gedächtnis.

Elisabeth Wagner

Arkadij Gurewitsch: Singende Pferde. Eine Jugend im Konzentrationslager, Hamburg 1997, Ergebnisse Verlag, aus dem Russischen übersetzt von Dina Lindner und Edith Erfurth-Sajonski, 142 Seiten, 29,80 Mark.

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