: Von der Kunst, nicht bis drei zu zählen
■ Roger Norrington erkundet mit den Bamberger Symphonikern in der Glocke die Zerrissenheit der Jahrhundertwende
Der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard hat die Kunst des 20. Jahrhunderts in „melancholia“und „novatio“unterschieden, aktive Trauerarbeit im Rückgriff auf Vergangenes und der absolute Neuanfang sind gemeint. Nirgends wird das deutlicher als an der letzten Jahrhundertwende, an der die Parameter dessen, was denn Musik sei, vollkommen neu definiert wurden: Dort ballt sich auf engstem Raum die Auflösung der Tonalität durch Arnold Schönberg, Berg und Webern, die Formorientierung an den Phänomenen der Natur durch Claude Debussy, die Setzung auf die Autonomie des Rhythmus durch Igor Strawinski. Einen winzigen Ausschnitt dieser Zeit brachten nun im letzten Meisterkonzert in der Glocke die Bamberger Symphoniker unter der Leitung von Roger Norrington.
Es war eine Zeit, in der es noch Uraufführungsskandale ohne Ende gab: einen bei der Uraufführung von zweien der „Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg“von Alban Berg 1913, in dem selbst ein „einschreitender Polizeikommisar in diesem Chaos wild aufgepeitschter Leidenschaften nichts ausrichten konnte“, so eine damalige Wiener Tageszeitung. Norrington und die israelische Sopranistin Sylvia Greenberg interpretierten diese aphoristische, dabei formstrenge „novatio“des Orchestersatzes mit einer Feinfühligkeit ohnegleichen. Zehn Jahre zuvor – 1904 – zehrte der zwanzigjährige Anton Webern, später der absolute Meister des Aphorismus, noch von der romantischen Tradition: Mit „Im Sommerwind – Idylle für großes Orchester“erprobt er nahezu unhörbare Klangflächen und dramatische Eruptionen. Das Werk ist ein einzigartiges musikgeschichtliches Dokument einer Zeit, die am Vorabend des ersten Weltkrieges immer mehr aus den Fugen geriet.
Das gilt genauso für das Beispiel der „melancholia“, die Vierte Sinfonie von Gustav Mahler, mit der der Komponist 1901 sein Publikum maßlos enttäuschte. „Der erste Satz beginnt so, als ob er nicht bis drei zählen könnte“, sagte Mahler, und an diesem Faktum setzt der Dirigent Norrington an. Mit einem perplex-naiven Ausdruck und einer ironisierenden Gestik definierte er die Mahlerschen Themen gleichsam als gesammelte und zitierte Fundstücke, um das Werk dann nur um so konsequenter in die Katastrophe, von der es spricht, zu führen. Sylvia Greenberg fand im vierten Satz gut den geforderten „kindlich-heiteren Ausdruck“, mit der dieses einstündige Werk verstörend das himmlische Paradies beschwört. Perfekt die Bamberger Symphoniker, die einen in jeder Hinsicht einmaligen Dirigenten vor sich hatten: ebenso viel, wie er vorgibt, hört er auch zu und reagiert. Dabei gelingt es ihm, den spezifischen Mahler-Ton unnachahmlich zu gestalten, man möchte hier für alle Instrumentengruppen einige Sonderlobe ausschütten. Große Begeisterung für ein fabelhaftes, aufschlußreiches Programm in einer fabelhaften und aufschlußreichen Interpretation.
Ute Schalz-Laurenze
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