: Früher Lifestyle-Biedermeier
■ Etwas zu leidvoll für weibliche Ich-Werdung: Rossinis „La Cenerentola“an der Staatsoper
Es bleibt dabei: Nördlich der Alpen hat Rossini es schwer, zumindest bei Fachleuten. Daran wird wohl auch die Premiere der Märchen-Buffa La Cenerentola am Sonntag in der Staatsoper nichts ändern.
Sie ist kein Meisterwerk. Aber hinreißend gemacht, in weiten Partien prickelnd frisch, unterhaltsam, voller Esprit und Tempo. Die Leistung ist anzuerkennen: Aus dem moralgesättigten, psychologischen Aschenputtel-Stoff hat Rossini eine Oper ohne jeden Tiefgang gemacht, das aber auf höchstem Niveau.
Regisseur Bruno Berger-Gorski gelang es nicht durchweg, solch Paradoxie in Szene zu setzen. Einige Aktionen der Sänger wirkten dramaturgisch unschlüssig und unklar. So die Kiste mit den Listen der Bräute des Landes, die Prinz Ramiro (stimmlich etwas dünn: Norman Rockwell) zwecks späterer Heirat besichtigen möchte – warum flogen die Papiere durch die Luft? Oder wenn die Stiefschwestern (Renate Spingler und Britta Stallmeister) so aufdringlich agieren, daß sie am Ende nicht nur den Prinzen nerven, sondern das Publikum gleich mit. Und wenn die Titelheldin allzu eindimensional nur leidvoll gekrümmt daherkommen darf. Es geht in Cenerentola schließlich um nicht weniger als um die Ich-Werdung einer jungen Frau inmitten von Ehrgeiz und Habsucht der Konkurrenzgesellschaft.
Rossinis Verzicht auf „Tiefe“ist die zynisch-fröhliche Reaktion eines Skeptikers auf das Scheitern aller empfindsam-humanen Hoffnungen der Aufklärung an den harten Börsenkursen nach der Französischen Revolution – nicht die bonbonfarbene Apologie eines frühen Lifestyle-Biedermeiers, wie die Lichtregie nahelegte. Ohne Abstriche positiv ist hingegen die Leistung des Orchesters unter David Robertson. Rossinis belcantolos kunstvolle Oberflächlichkeit erscheint als das, was sie sein soll: ein prämodern minimalistisches, kühl und ausgeklügelt arrangiertes Feuerwerk aus kleinsten musikalischen Einheiten.
Gesungen wurde gut, Carmen Oprisanu (Cenerentola) füllte die schwierigen Koloraturen ihrer Partie mit Leben, Angel Odenas Dandini und Stefano Rinaldi Milianis Alidoro hatten Kraft und Wärme, und Enzo Dara (Don Magnifico), Weltmeister des Parlando, ist einfach urkomisch.
Die Cenerentola-Premiere 1817 war kein Hit. „Bevor der Karneval vorbei ist, wird man sie lieben“, prophezeite Rossini damals. So war es. Und so wird es vermutlich auch mit der Hamburger Inszenierung sein. Sie hat das Zeug zum Publikumsliebling. Alles in allem zu Recht.
Stefan Siegert
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