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Das große Beginnergefühl

150 Jahre „Kommunistisches Manifest“ sind 150 Jahre Tabula rasa und Zerstörungswünsche: Was wir in der Totalherrschaft der Gegenwart von Marx lernen können  ■ Von Robert Misik

Marx war buchstäblich ein Anfänger. Mit dem „Kommunistischen Manifest“ wurde vor aller Welt eine neue Epoche des Denkens eröffnet. Mit ihm trat, von seiner ganzen Anlage und Diktion, das Neue an den Tag. Das „Manifest“ ist eine Verkündigung.

Natürlich kam das „Kommunistische Manifest“, dessen erstmalige Veröffentlichung sich heute zum 150. Mal jährt, nicht aus dem Nichts. Marx selbst schrieb 1852: „Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf untereinander entdeckt zu haben.“ Die Marxsche Philosophie war vorbereitet; von Hegel und Feuerbach in der Philosophie, von David Ricardo in der Ökonomie, dessen Arbeitswertlehre Marx nur übernehmen mußte; vom jüdischen Messianismus und seiner Eschatologie, der Teleologie vom Ziel der Geschichte; – und auch das „Manifest“ war durch Marx' bisherige Schriften vorweggenommen.

Aber man kann Marx, man kann das „Manifest“, man kann die Gewalt dieser Sprache, die diesem politischen Pamphlet nicht nur seinen Platz in der politischen Historie, sondern auch in der Literaturgeschichte gesichert hat, nicht verstehen, ohne einen Begriff von der Emphase des Aufräumens, des Reinen-Tisch-Machens, des Zerstörungsgestus gegenüber einer überkommenen Welt. Ein heiliger Schauer läuft einem heute noch über den Rücken angesichts der Prophezeiung vom „gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“.

Daran, daß Marx im eigentlichen Sinn des Wortes einen Bruch markiert, kann auch die Tatsache nichts ändern, daß es – wie immer, wenn sich Neues Bahn bricht – die alten Begriffe waren, auf deren Rücken das Neue von sich reden machte. Es sind immer die alten, die gewohnten Begriffe, die mit dem Protokoll des Bruchs beauftragt werden.

Daß dieses Jahrhundertpamphlet im Revolutionsjahr 1848 erschien, kann uns nur logisch scheinen. Denn es liegt in der Natur solcher Texte, daß sie nicht voluntaristisch „in die Welt“ gesetzt werden können. Ihre Zeit muß reif sein. So ist Marx, so ist das „Kommunistische Manifest“ ein nachdrückliches Exempel dafür, was uns der historische Materialismus sagen will. Das Manifest hätte nicht geschrieben werden können ohne die Existenz einer neuen Klasse. Das Manifest wurde möglich, weil das Proletariat da war. Proudhon hat einmal darauf hingewiesen, daß „die Revolutionen immer in den Vorstädten gemacht werden, und nirgendwo ist das Volk so jung, jeder Tradition entrissen, bereit, einem plötzlichen Impuls kollektiver Leidenschaften zu folgen“. So ist es eben kein Zu-, sondern vielmehr ein Glücksfall, daß da eine Klasse, die im doppelten Sinne jung war, mit einem philosophischen Beginner die Bühne betrat.

Marx muß sich heute viel nachsagen lassen: Es sind nicht einmal die Böswilligsten, die ohne viel Federlesens vom Scheitern des sowjetischen Kulturexperiments und vom historischen Sieg des Kapitalismus darauf schließen, schon am Ausgangspunkt der Marxschen Idee wäre der grandiose Irrtum programmiert gewesen; je nach Perspektive gerät Marx auch zum emphatischen Fürsprecher der Globalisierung („Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht...“, heißt es ja schon im Manifest über die bourgeoise Ordnung) oder zu deren ersten Kritikern.

Seltener schon wird darauf hingewiesen, auf welch großartige Weise die Marxschen Prognosen verifiziert wurden. Man muß dies sich vergegenwärtigen: In der Morgenröte der kapitalistischen Industrialisierung, als das Proletariat noch einen verschwindenden Prozentsatz der Bevölkerung ausmachte und vorwiegend aus marginalisierten, in die Städte geschwemmten Arbeitssklaven bestand – da entdeckt Doktor Marx in diesen verkommenen, verlausten, in Gemeinschaftsunterkünften gezwängten Arbeitern das Subjekt der Geschichte, das seiner radikalen Entmenschung wegen zum Befreier der Menschheit bestimmt sei. Und in den Jahrzehnten, die da kamen, entwickelt sich aus diesem Nukleus tatsächlich, der Marxschen Prognose entsprechend, eine industrielle Arbeitermasse, die – von der Sozialdemokratie organisiert (und diszipliniert) – zum Motor der Zivilisierung und Demokratisierung der neoabsolutistischen Staaten (West-)Europas und – nicht ganz der Marxschen Prophezeiung gemäß – zur tragenden Säule der Post-1918-Republiken auf diesem Kontinent wird, das allgemeine Wahlrecht ebenso durchsetzt wie den Achtstundentag und den Mutterschutz.

Was sagt uns das Manifest heute? Die einzelnen Prognosen, diese oder jene Kategorie des „dialektischen Materialismus“ vorerst beiseite lassend, kann das „Kommunistische Manifest“, dies zuallererst, unsere Sensibilität für historische Momente schulen, in denen der große Gestus an der Zeit ist, dem Alten den Kampf anzusagen, weil es morsch ist – oder weil es in seiner perspektivlosen Leere einfach langweilt. Alles Große nährt sich aus diesem Impuls.

In den Tagen des Jahres 1847/48 war es die vormärzliche Stagnation, die die Revolutionsemphase, die Zerstörungswünsche beflügelte. Ein paar Jahrzehnte später, in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs, wurde wieder der Untergang der alten Welt beschworen. „Wir horchen auf wilder Trompetendonner Stöße / und wünschen herbei einen großen Weltkrieg“, dichtete der spätere kommunistische Lyriker Johannes R. Becher. Nach dem Krieg, als die Bourgeoisie den Zusammenbruch ihrer Welt mit Erfolg betrieben hatte, notierte Bertolt Brecht in sein Arbeitsjournal: „Man braucht die große Tabula rasa, das Beginnergefühl.“ Und Walter Benjamin prägt das Wort vom „positiven Barbarentum“. Ein Barbarentum, das alles Hergebrachte durchstreicht, das uns dazu zwingt, „von vorn zu beginnen... Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten.“

Es hat dies etwas Grandioses an sich, wovon wir uns im leeren Kontinuum der Totalherrschaft der Gegenwart gar keinen Begriff mehr machen können. Aber gerade die unsere ist nun eine Zeit, in der, weil nichts geschieht, das Bedürfnis, daß endlich etwas geschehen möge, anhebt. Mahagonny ist wieder überall: „Auch, mit eurem ganzen Mahagonny / Wird nie ein Mensch glücklich werden / Weil zu viel Ruhe herrscht“, heißt es in Brechts Songtext.

Jetzt fordert auch schon Roman Herzog einen „Ruck“. Er sollte sich einen solchen geben und das „Manifest der Kommunistischen Partei“ lesen. Denn von Marx lernen heißt beginnen lernen.

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