piwik no script img

■ Bonn apartDie Gnade des 22. April

Eigentlich sollte ja der 26. März 1998 die Vorentscheidung für den Regierungswechsel bringen. „Am 26. März“, hätte später einmal Altbundeskanzler Gerhard Schröder den Enkeln seiner Ex-Frauen vom zigarrenrauchumwölkten Lehnstuhl aus zugeraunt, „hat die Ära Schröder praktisch angefangen“.

Aber die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages war dagegen. Der Bundestag wird nun zur Überraschung der SPD doch nicht über das Staatsangehörigkeitsrecht abstimmen, die FDP-Abgeordneten müssen nicht zu Abtrünnigen werden, die Koalition wird nicht platzen, die Ära Kohl ist nicht unwiderruflich zu Ende. Schröder kann sich auf seine Aufgabe als VW- Aufsichtsratsmitglied konzentrieren.

Und das alles, ohne daß auch nur eine Kugel verschossen worden wäre. Der modernen Kriegsführung per Geschäftsordnung sei Dank.

Dabei könnte der Machtwechsel längst in trockenen Tüchern sein. Wenn die SPD nur die Gnade des 4. März 1998 genutzt hätte. An diesem Tag wurde im Bundestag darüber abgestimmt, ob die deutsche Nationalmannschaft am 22. April ihr Vorbereitungsspiel zur Weltmeisterschaft gegen Nigeria austragen darf. Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hatte zuvor aus Protest gegen die Menschenrechtslage in Nigeria einmütig dagegen gestimmt. Die Abgeordneten stützen sich dabei auf die von der Europäischen Union im Dezember 1995 beschlossenenen Sanktionen gegen das Militärregime in Nigeria.

Und was machte die SPD? Statt die FDP auf eine gemeinsame Boykottlinie einzuschwören, stimmten ihre Abgeordneten wie die Unionsabgeordneten für die Ansetzung des Spiels. Daß die FDP-Abgeordnete Ingrid Schwaetzer unter Mißachtung der Koalitionsräson in quertreiberischer Weise gegen ihre Koalitionskollegen von der Union stimmte, ging dabei völlig unter. Wieder mal 'ne Chance zum Regierungswechsel vertan.

Aber vielleicht ist die SPD ja cleverer, als wir dachten. Möglicherweise setzt sie voll auf den 22. April. Stellen wir uns vor, Deutschland verliert. Das Maß wäre voll. Bundeskanzler Kohl müßte wohl endgültig zurücktreten. Markus Franz

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen