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Ungarn fühlt sich fit für die EU

Gestern begannen die Beitrittsverhandlungen zur EU. Ungarn gilt als Musterland, doch die Anpassung an das Dickicht der EU-Richtlinien wird schwer  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Früher wurden wir in Brüssel mit Distanz behandelt. Wir fühlten uns als Bittsteller aus der osteuropäischen Provinz. Das hat sich seit einiger Zeit geändert. Jetzt werden wir als gleichwertige Partner und als potentielles Mitglied akzeptiert.“ So beschreibt Ivan Kali, Leiter der EU-Abteilung im ungarischen Industrie- und Handelsministerium, die Atmosphäre, wenn in Brüssel Gespräche um die EU-Integration Ungarns stattfinden.

Gestern begannen in Brüssel mit einer Sitzung der Außenminister der EU und der Beitrittskandidaten nun auch offiziell die Aufnahmeverhandlungen mit Polen, Tschechien, Ungarn, Estland und Slowenien und Zypern. Ungarn ist dabei einer der Favoriten für eine schnelle EU-Aufnahme.

Die Aussichten dafür sind nicht schlecht. Den übergang zur Marktwirtschaft hat Ungarn weitgehend abgeschlossen. Die Privatwirtschaft trägt 80 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Mit 16 Milliarden Dollar hat Ungarn die Mehrheit der Auslandsinvestitionen in Osteuropa an sich gezogen und ist dabei, sich zu einem regionalen Finanz- und Wirtschaftszentrum zu entwickeln. Im- und Exporte wickelt das Land zu zwei Dritteln mit EU-Ländern ab, ein Drittel geht allein nach Deutschland.

Zwar erreicht Ungarns Pro- Kopf-Bruttoinlandsprodukt noch längst nicht das Niveau selbst ärmerer EU-Staaten wie Portugal. Auch die Produktivität der Wirtschaft liegt unterm EU-Durchschnitt. In einigen Wirtschaftszweigen jedoch, die für die EU-Integration prinzipiell als problematisch angesehen werden, weist Ungarn Strukturvorteile gegenüber anderen Kandidaten auf. So sind Stahlindustrie und Bergbau auf ein Minimum geschrumpft und auf dem Wege ihrer Modernisierung; und der vieldiskutierte Agrarsektor spielt im Fall Ungarn eine untergeordnete Rolle (siehe Kasten).

Auch die Schwierigkeiten vieler ungarischer Firmen mit der EU- Konkurrenz haben abgenommen. Durch den EU-Assoziationsvertrag sind die Zollschranken im Warenverkehr in den letzten Jahren Schritt für Schritt gefallen, so daß ungarische Unternehmen sich ausländischer Konkurrenz stellen mußten. Zum anderen besitzen eine Reihe von Großunternehmen eine ausländische Beteiligung oder befinden sich in ausländischer Hand und produzieren nach westlichen Standards, etwa in den Branchen Auto, Elektronik, Lebensmittel und Textilien.

Diese Erfolge sind unbestritten. Doch unabhängige Experten warnen vor großen Schwierigkeiten bei der Umstellung auf die vielen EU-Mechanismen und -Richtlinien. „Die konkrete Integrationsstrategie Ungarns wird erst jetzt ausgearbeitet, und erst jetzt kommen viele Probleme ans Licht“, sagt Zsuzsa Borszeki, EU-Expertin am Budapester Wirtschaftsforschungsinstitut Kopint-Datorg. „Ungarn ist auf den komplizierten Mechanismus EU längst noch nicht vorbereitet.“

Das beginnt schon bei simplen Fragen, wie Ivan Kali gesteht: Es gibt kaum mehr als ein paar Dutzend ungarischer EU-Experten. Wegen der geringen Löhne in Ministerien und Behörden hat der Staat außerdem Rekrutierungsprobleme. Und nur ein Bruchteil der EU-Dokumente und -Richtlinien ist bislang übersetzt worden.

Dringenden Nachholbedarf hat Ungarn vor allem in Fragen der Wirtschaftspolitik: bei Subventionen und Wettbewerbspolitik sowie bei Struktur- und Regionalplanung. Subventionen nach staatssozialistischem Muster vergibt der ungarische Staat zwar nicht mehr. Doch mit der Umstellung des Subventionssystems auf EU-Muster – etwa Fonds für Arbeitsförderung oder Umweltschutz oder die transparente Kategorisierung von Subventionen – wird erst jetzt begonnen, wie Agnes Vargha, Leiterin der EU-Abteilung im ungarischen Finanzministerium, zugibt.

Im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes oder bei der Anwendung von EU-Normen sieht es ähnlich aus: Hier steht Ungarn erst am Anfang. Ungarische Unternehmer sind sich dieser Mängel durchaus bewußt: In einer Umfrage der ungarischen Industrie- und Handelskammer unter mehreren tausend Unternehmen gaben im letzten Jahr 85 Prozent aller Firmen an, daß ihnen Informationen fehlen, um sich auf die EU-Integration vorzubereiten. Etwa dieselbe Anzahl der Firmen hat bisher nichts unternommen, um diesen Mangel zu beheben. Andere Studien bestätigen das Bild: Nur in Ausnahmefällen haben Firmen Anpassungsprogramme aufgestellt oder verfügen über eigene EU-Experten.

Trotzdem geben sich ungarische Politiker zuversichtlich, daß die Integration möglich ist: Schon in fünf Jahren könne Ungarn EU-Mitglied sein. Die Ökonomin Zsuzsa Borszeki ist skeptischer und sieht im Drängen ungarischer Politiker auf die schnelle EU-Mitgliedschaft sogar eine Gefahr: „Es ist sehr schwierig, in den Verhandlungen das Optimum zu finden. Politisch ist es nicht angebracht, zuviel zu fordern. Wir dürfen jedoch die Grenze des wirtschaftlich unbedingt Notwendigen nicht unterschreiten.“

Die Masse der ungelösten Fragen deutet an, welche Aufgabe die EU bei den Verhandlungen mit den sechs Aufnahmekandidaten noch vor sich hat. Immerhin attestiert sie diesen Ländern noch die „EU-Reife“. Anders ist das bei den EU-Interessenten Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien und Slowakei. Die sollen durch „Beitrittspartnerschaften“ erst einmal langsam an die „EU-Reife“ herangeführt werden. Schließlich sind die Anpassungsprozesse auch für die EU nicht so leicht zu verdauen, wie der Streit um die Anpassung der EU-Finanzen in der Agenda 2000 zeigt.

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