: Leben nach Ladenschluß
48 Jahre und immer noch üppige Haare: Mit „Jackie Brown“ rettet Quentin Tarantino das Siebziger-Jahre-Phänomen der Blaxploitation in die weitläufige Shopping-Mall-Welt der postmodernen Gegenwart herüber ■ Von Harald Fricke
Kairos, so nannte man in der griechischen Philosophie den Moment der Entscheidung, jenen Augenblick, an dem sich Schicksal und Wille ineinanderfügen. Mitten in „Jackie Brown“ durchlebt der in die Jahre gekommene Kautionsmakler Max Cherry eine solche Situation: Er steht am Gitter eines Gefängnisses in Los Angeles und sieht von weit hinten eine Frau auf sich zukommen. Sie trägt eine blaue Stewardeß-Uniform, üppiges Haar und eine Riemenhandtasche über der Schulter. Weil die Dunkelheit ihn verdeckt, kann sie sein Gesicht nicht erkennen. Er starrt sie dagegen um so mehr an, reglos zwar, aber voller Liebe. So zumindest sieht ihn der Kinozuschauer, in einer schier endlosen Nahaufnahme. Dazu hört man ein bißchen Soulmusik, den weich instrumentierten Schmusesound der Delfonics aus Philadelphia, und es ist wie im Himmel.
Folgt man der Definition von Kairos weiter, dann spielt sich im Moment der spontanen Entscheidung das ganze Drama menschlichen Handelns ab – nur die eigene Erfahrung zählt. Weil eben alle Situationen miteinander verbunden sind, ohne daß ihnen ein Regelwerk gemeinsam wäre, ist es für die Wahl des rechten Moments bezeichnend, daß die unvorhersehbaren Erfordernisse des Augenblicks die an sich sinnwidrigsten Aktionen zu sinnvollen, weil rechtzeitig unternommenen Handlungen werden lassen.
Diese Überlegungen hatte die Kölner Künstlerin Jutta Koether vor zwei Jahren einem Sammelband über „Texte zur Kunst“ vorangestellt. Noch stärker scheint das der Art zu entsprechen, wie Quentin Tarantino Kino macht. Schon in „Pulp Fiction“ ordnete er die Situationen unter dem Titel „A bonny situation“ ständig neu um. Auch seine „Jackie Brown“ ist eine unentwegte Verkettung von Lebensbewältigungsphantasien: Wer schießt zuerst? Wer lächelt am längsten?
Tatsächlich kann Jackie Brown zunächst kaum glauben, daß Max ihr als Retter geschickt worden ist. Vielmehr hält sie den Mann für einen Killer, der sie im Auftrag von Ordell Robbie erledigen soll, damit Jackie dessen Waffengeschäfte nicht vor Gericht ausplaudert. Weil auch sie aber der Gunst des Augenblicks vertraut, planen die beiden schon wenige Minuten später einen gewaltigen Coup: In einer ziemlich risikoreichen Aktion sollen der Waffenhändler und die Polizei gegeneinander ausgespielt werden, so daß Ordell am Ende im Knast landet, während Jackie und Max sich mit einer halben Million Dollar aus dem Staub machen – take the money and run.
Es ist die Logik des Alles oder Nichts, wie sie die Figuren des Film noir verkörpern, die Elmore Leonhard in seinem Krimi „Rum Punch“ festgehalten hat. In Quentin Tarantinos Verfilmung wird daraus ein zweiter Frühling des Blaxploitation-Cinemas der siebziger Jahre. Die Handlung wurde von Miami nach L.A. verlegt, weil Tarantino sich in dieser Gegend besser auskennt; und statt Jackie Burke, einer weißen Frau Mitte Vierzig, sieht man nun Pam Grier, die mit spitzer Nase und gut gepolstertem Körper durch den Film stolziert wie zu ihren besten Zeiten in „Coffy“ oder „Foxy Brown“. Das war 1974, verdammt lange her.
Schon im Vorspann merkt man der aus der Versenkung Hollywoods hervorgezauberten Schauspielerin an, wie sie vor Freude schier zu platzen scheint, während sie vor immer neuen, meerblau gekachelten Flughafenwänden auf einem Rollband entlangschwebt. Die Kamera beobachtet sie dabei über Minuten – wie einen Engel, dessen Erscheinen kein Schwenk oder Gegenschnitt trüben darf. Und auch Robert Forster dürfte sich ähnlich wie Grier gefühlt haben, als Tarantino ihm die Rolle des sorgenzerfurchten Kautionsmaklers anbot. Vielleicht sind es die 30 Jahre Nebenjobs, die ihn ohne großes Mienenspiel zum authentischen Verlierer machen.
Im Rückblick sieht Forster sein Engagement für „Jackie Brown“ als „Geschenk“, das ihm eine Oscar-Nominierung einbrachte. Umgekehrt haben die echten Stars im Team unglaublich mannschaftsdienlich gearbeitet: Bridget Fonda darf als abgetakeltes Surfergirl den ganzen Tag kiffend und kichernd auf dem Sofa liegen; bei Robert De Niro kommt die hohe Kunst des Method Acting durch, wenn er als verschüchterter Ex-Knacki nicht einmal weiß, wie die Alarmanlage eines Mercedes funktioniert; und Samuel L. Jackson muß als waffendealender Ordell vor allem fluchen, fluchen, fluchen und seinen dürren Zopfbart streicheln. Immerhin hat er die Pointen auf seiner Seite – auf die Frage, wer die Leiche in seinem Kofferraum ist, antwortet er verschmitzt: „An employee I had to let go.“
Obwohl Tarantinos Liebe zu Shaft und Co. vom Soundtrack bis in die Interieurs billiger Striplokale reicht, ist „Jackie Brown“ weit mehr als ein Rip-off schwarzer Popkultur und atemlose Zitierwut. Stärker als in „Reservoir Dogs“ oder „Pulp Fiction“ interessiert sich Tarantino dafür, wie seine Charaktere über die Black box des Alltags triumphieren, indem sie einfach ihrem Instinkt folgen – allen Übeln zum Trotz. Natürlich kommt auch „Jackie Brown“ nicht ohne die Tarantino-übliche Blutsuppe aus, so daß die eben noch herummeckernde Fonda plötzlich erschossen daliegt oder De Niro zersplattert mit dem Kopf an der Windschutzscheibe klebt. Trotzdem strahlt der Film eine verschlagene Heiterkeit, wenn nicht Harmonie aus, wie man sie eher bei neueren Produktionen von Clint Eastwood oder auch Robert Altman vermuten würde.
Ist Quentin Tarantino, der lobgepriesene „natural born filmmaker“ und White-trash-darling, womöglich schon nach dem dritten Film müde geworden? Einige Kritiker in den USA meinten ja und waren sehr enttäuscht, als „Jackie Brown“ in die Kinos kam und sich bei ihnen der Thrill-Effekt nicht so recht einstellen wollte. Während sie wenige Wochen zuvor noch dreieinhalb Stunden darüber geheult hatten, wie junge Menschen auf einem Luxusdampfer die Liebe suchen, bis dann endlich das Schiff sinkt, war ihnen die Story um zwei ältere Herrschaften, die sich gegen die großen Ungerechtigkeiten der Welt wehren, viel zu langatmig. Tarantino nahm den Ruf nach mehr Gewalt und Härte jedenfalls äußerst gelassen: Man habe ihn eben bereits nach zwei Filmen auf ein bestimmtes Genre festlegen wollen, erzählte er in einem Interview auf BBC-TV, „aber bei Scorsese hat das ja auch nicht geklappt, da mußte man erst mal ,Mean Street‘, ,Taxi Driver‘ und ,Alice lebt hier nicht mehr‘ zusammenbringen“.
Sehr viel mehr Probleme brachte ihm dagegen seine Unnachgiebigkeit in Sachen Realität ein. Weil Jackson ständig über „Nigga“ schimpft, beschwerte sich Spike Lee bei Miramax-Chef Harvey Weinstein persönlich darüber, daß hier ein weißer Regisseur anderer Leute Identitäten wie Schmuckwerk benutzt. Die Kritik ist unberechtigt: Tarantino fügt seine Bilder nicht zu einer Gesamtsicht auf afroamerikanische Glam- und Ghetto-Kultur zusammen, so wie die Coen-Brüder das Hippietum an der West Coast in „The Big Lebowski“ mit Vietnam kurzschließen. Ihm geht es einzig darum, eine Stimmung aufzubauen, die ein wenig melancholisch das Siebziger-Jahre-Phänomen der Blaxploitation in eine Shopping-Mall-Welt der Gegenwart herüberzuretten versucht. Dadurch erhält der Stil alter Schule etwas Brüchiges, und Bundfaltenhosen paaren sich mit schwarzen Black-Panther-Lederjacken. Als Max Cherry vorsichtig bei Jackie Brown nachfragt, warum sie sich in Zeiten von Compact Discs dennoch mit zerkratzten Soulplatten begnügt, antwortet sie: „Ich kann es mir nicht leisten, noch mal von vorne anzufangen. Ich habe zuviel Zeit und Geld in meine Platten investiert.“
An solchen Sätzen aus der Wirklichkeit hat Quentin Tarantino ein Jahr lang für das Drehbuch geschrieben. Vermutlich meint er es ernst damit, wenn er sagt, daß „Jackie Brown“ auch etwas über die soziale Lage einer Generation aussagen soll, die mit Disco-Euphorie aufgewachsen ist, um heute mit einem Jahresgehalt von 16.000 Dollar altern zu müssen. Solche unaufgeregten Working-class-Dramen würde man doch gerne auch einmal bei Spike Lee sehen. Später wiederum läßt Tarantino den still verliebten Max eine Best-of-Cassette der Delfonics kaufen, das nun dauernd in seinem Auto läuft, bis er sie schließlich mitsummen kann. Es ist eine schöne Platte, auf der die betagten Soulmelodien stets von neuem das Glück des Augenblicks versprechen. In Deutschland bekommt man sie leider bloß als Import und natürlich nur auf CD.
„Jackie Brown“. Regie: Quentin Tarantino. Mit Pam Grier, Robert Forster, Samuel L. Jackson, Robert De Niro, Bridget Fonda u. a. USA 1997, 154 Min.
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