piwik no script img

■ Wahlkampf zwischen demokratischer und manipulativer Öffentlichkeit – was von der außerparlamentarischen Kritik bleibtMehr als ein leeres Ritual?

Satire vom Feinsten. Eben war der Rest der Welt, inklusive hochprominente Bündnisgrüne selbst, über die Fünf-Mark-Benzinpreis- Vision hergefallen, als sei sie der ultimative Suizidversuch in einer Zeit, wo die Wirtschaft erst mal anzukurbeln sei. Da stießen die christlichen Demokraten ins gleiche Horn und zogen die bayerischen Steuerknüppel auf sich. Selbst die FDP, der es für eine „Doppelspitze“ wie Kohl/ Schäuble, Schröder/Lafontaine, Fischer/Trittin schlicht an Personen mangelt, tritt dem Himmelfahrtskommando auf ihre Art bei: Energiesteuern könnten nach liberaler Ansicht erhöht werden, wenn sie gleichzeitig gesenkt würden...

Über die Wahlstrategien der Parteien darf geflucht oder gelacht werden, aber was ist an ihnen ernst zu nehmen?

Etwas Distanz tut gut. Haben Wahlkämpfe irgend etwas mit demokratischer, gar „herrschaftsfreier“ Öffentlichkeit (Jürgen Habermas) zu tun? Isoliert betrachtet, gehören die Wahlkampfstrategien zur „Arkansphäre“, zum geheimen Mauschelraum von Parteiapparaten. Und doch sind sie Zubehör einer demokratischen, wenn auch hochrestriktiven Öffentlichkeitsfunktion. Nehmen wir sie genauer unter die Lupe, ausgerechnet in dem Jahr, in dem nach 30 Jahren der „Achtundsechziger“- Marsch durch die Institutionen ans Ziel kommen will (heiliger Rudi Dutschke, bitte für uns), tritt Überraschendes zutage. Nur mit „außerparlamentarischer Opposition“, der APO in Permanenz, läßt sich auch heute „mehr Demokratie wagen“.

„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten“, wissen Anarchos (und konkret). APO-Altmeister Johannes Agnoli spricht von „konstitutionellen Oligarchien“, in denen die Präsenz der Massen zwischen den Wahlen nahezu abgeschafft ist. Für Claus Offe sind Wahlen Entscheidungsmöglichkeiten mit wesentlichen Einschränkungen. Wahlen verbreiten die Illusion, in der Ökonomie (und im Staatsapparat) schnell weitreichende Änderungen durchsetzen zu können. Dazu kommen institutionelle Einschränkungen, zum Beispiel Fünfprozentklausel, Abwesenheit von plebiszitären Elementen und von Versammlungsdemokratie („town meetings“) mit Argumentationsmöglichkeiten fürs Wahlvolk. In politik- und sozialwissenschaftlichen Wahlanalysen mit ihrem technokratisch eingegrenzten Öffentlichkeitsbegriff ist von diesen Beschränkungen selten die Rede.

Die Öko-Parteien seit den siebziger Jahren sind geprägt vom Wertewandel und von neuen sozialen Bewegungen. Das neue Thema Umwelt eroberte die Köpfe und Bäuche im Sturm; von den konkurrierenden Parteien wurde es nicht glaubwürdig angeeignet. Aber in den Wahlkämpfen 1990 und 1994 traten deutsche Einheit bzw. Ökonomie/Soziales in Konkurrenz zur Ökologie. Das langfristige Paradigma „Ökologie“ ist nicht unbedingt auch das unmittelbare Ziel.

Doch 1998 bieten interessanterweise nicht nur die Bündnisgrünen zwei Seelen in der Brust, zwei Kandidaten an der Spitze. Das Zwillingspaar der Union – einer für Koalition mit der FDP, der andere für die SPD-, das sozialdemokratische Gegenstück – ein Neoliberaler, gut für die Schwarzen, mit einem Sozialökologischen für die Bündnisgrünen-, das doppelte „Ü“ – ein neoliberaler und ein sozialer Akzent –: alle Parteispitzen sind schwer erschüttert, ließ uns die Frankfurter Allgemeine wissen. Die Umfragen zeigen neben aktuellen Greenpeace-Abstiegsdaten auch, daß die Umwelt als langfristiger „Wert“ unerschüttert ist, egal auf welchem Rekordniveau die Arbeitslosigkeit verharrt. Das besteht nebeneinander. Wir alle sind „Doppelköpfe“. Institutionell hat das Langfristige in dieser Politik keine Chance; Öko-Diktatur wäre eine Sackgasse – und so brachen sich die charmanten Männerpaare Bahn.

In den Janusköpfen zeigt sich, wider Willen der politischen Klasse, ein möglicher Demokratiezuwachs. Die Parteimaschinen müssen dem Widerspruch zwischen langfristigen Werten und kurzfristigen Interessen Rechnung tragen.

Je differenzierter die Wahlentscheidung, desto härter für die innerparteiliche Einheitsvergewisserung. Alle Parteien müssen gerade die WählerInnen anziehen, die sie am wenigsten mögen. Schmerzgrenze: wenn die Treuen zu sehr murren.

Aufforderungen an die Bündnisgrünen zur Regierungsabstinenz, gleich ob „nur diesmal“ (so Jürgen Gottschlich an dieser Stelle, 7. 10. 1997) oder generell, werden dem Dilemma nicht gerecht. Wenn bürgerliche Demokraten oppositionellen Kräften eine Chance geben (anstatt etwa eine Öko-Guerilla zu riskieren), bezahlen beide Seiten für die Kooptation einen Preis.

Praktischer als Abstinenz ist die Distanzierung gegenüber der Wahl als leerem Ritual, gerade dort, wo ein Bewußtsein davon lebt, wie jämmerlich restriktiv der Wahlmechanismus ist. Auch nach dem Abschied von der Rotation zeigt sich dieses Element bei den Bündnisgrünen noch. Etwa in „Walkampfplakaten“ mit liebevollen Konterfeis der Ozeanriesen. In der starken Selbstverpflichtung gegenüber den neuen sozialen Bewegungen, etwa bei der Frauenquote.

Vielleicht „funktionieren“ Wahlkampfstrategien der Bündnisgrünen gerade durch die Distanzierung zum real existierenden Wahlmechanismus, in Richtung auf mehr Demokratie? Nebenbei erfahren wir schon mal, die Bundespartei werde auf ihren Personen-(nicht Babyfoto-)Plakaten sitzenbleiben, die Kreisverbände nähmen solche „Marlboro“-Werbung erfahrungsgemäß nicht ab...

Unser Wahlsystem ist extrem antiplebiszitär. Es sollte nach 1949 „Weimarer Zustände“ verhindern, die eine Nazi-Wahl ermöglicht hatten. Die Bündnisgrünen könnten aber Methoden vorschlagen, um Demokratie nicht autoritär, sondern emanzipatorisch zu verankern. Die Schweizer Volksabstimmungen über humanere Drogenpolitik und die Abschaffung der Armee waren vorbildlich.

Von der historischen Bedeutung einer „permanenten APO“ sollte viel mehr zu spüren sein. Vielleicht im Sinne der Liste UNGÜLTIG, die einst in Hessen antrat; das hieß wohl: Union Nicht Genügend Überdachten Lächelns Trotz Innerer Genialität. Oder ökologisch begründet? Bitte – gerade jetzt haben die Vereinten Nationen Bonn zum Sitz des weltweiten KLEINWAL-Sekretariats bestimmt. Richard Herding

Dank für die Mitarbeit an Fátima Mendes- Kreikebaum und Karl Duncker, ID-Projekte Alltag bzw. Dokumentation

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen