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„Haß würde nichts verändern“

Vor 53 Jahren wurde Bluma Mekler in der Schule Bullenhuser Damm von der SS ermordet. Gestern kam ihre Schwester erstmals aus Israel nach Hamburg  ■ Von Heike Dierbach

„Wie ist Bluma Mekler totgegangen?“fragt der kleine Junge laut in die Stille. „Ich war nicht dabei“, antwortet Shifra Mor ihm geduldig, „sie ist 1943 aus meinem Leben verschwunden.“Die Kinder haken nach: Ob sie durch eine Kanone gestorben sei? Oder durch einen Pfeil?

Erst vor acht Jahren erfuhr Shifra Mor, wie und wo ihre Schwester Bluma gestorben ist: Sie wurde im Alter von zehn Jahren am 20. April 1945 im Keller der Schule am Bullenhuser Damm in Rothenburgsort von der SS erhängt. Mit ihr starben 19 weitere jüdische Kinder aus Polen, Frankreich, Italien, Jugoslawien und den Niederlanden, vier Widerstandskämpfer aus Frankreich und Belgien sowie 24 sowjetische Kriegsgefangene. Zuvor waren die Kinder im Konzentrationslager Neuengamme von dem Arzt Kurt Heißmeyer für medizinische Versuche mißbraucht worden. Die Morde sollten die Spuren verwischen – die britischen Truppen standen schon kurz vor Hamburg.

Haß empfinde sie nicht, sagt die 61jährige Israelin heute, „Haß würde nichts verändern“. Dennoch hat sie einen Besuch in Deutschland 53 Jahre lang vermieden. Warum sie jetzt den Schritt gewagt hat? „Wegen der Kinder.“Die Kinder der DRK-Kindertagesstätte „Bluma Mekler“in Schnelsen haben Shifra Mor eingeladen. Und auch wegen Bluma komme sie, die „so allein hier war und so allein gestorben ist“. Bereits am Montag besuchte sie den Keller, in dem ihre Schwester starb und der heute eine Gedenkstätte ist.

Das jüngste ermordete Kind war gerade einmal fünf Jahre alt – genau wie die kleine Kim, die sich jetzt als erste traut, Shifra ihr selbstgemaltes Bild zu geben. Wie Shifra damals „auf sich aufgepaßt hat“, will ein Junge wissen. „Gute Menschen haben mich versteckt“, erzählt die Israelin in gebrochenem Deutsch, „aber es war sehr schwer“. Nur ein Bruder überlebte die Deportation durch die Nazis. „Renn, Shifra, renn!“, waren die letzten Worte, die sie von ihrer Mutter gehört hat. Damals war sie sechs.

„Alle Menschen brauchen Frieden, um glücklich zu sein“, singen die Kinder jetzt in der Halle der neugebauten Kindertagesstätte, und „Shalom alechem“– extra auf hebräisch eingeübt. Shifra Mor rückt ihren Stuhl näher heran, um mit den Kindern zu singen. „Genießt eure Kindheit“, sagt sie den Kleinen, „versucht nicht, schnell erwachsen zu werden.“

Die Kinder inhaltlich auf den Gedenktag vorzubereiten, war gar nicht das Schwierigste, berichtet Brigitte Klesse, die Leiterin der Kita. „Zuerst mußten wir das Thema für uns im Team behandeln und sehen: Wer kann das überhaupt leisten?“Viele der MitarbeiterInnen merkten, daß sie Probleme mit dem Thema Tod hatten. Mit einem Bilderbuch über eine Freundschaft zwischen einem jüdischen und nicht-jüdischen Mädchen habe man schließlich gearbeitet – allerdings nur mit den älteren Kindern.

Die klatschen jetzt begeistert den Takt zu einem jiddischen Lied. Fröhliche Feststimmung verbreitet sich in der kleinen Halle. Shifra Mor hat den Kindern ein Geschenk mitgebracht, einen Bildband über Israel. Die Dolmetscherin übersetzt die Widmung: „Ihr seid die Garantie dafür, daß solche Greueltaten nie wieder von Menschenhand begangen werden.“

Heute fliegt Shifra Mor zurück nach Tel Aviv. Bereut hat sie ihre Entscheidung für die Reise in keinem Moment, sagt sie. „Ich nehme die Gewißheit mit zurück, daß einige Menschen hier wunderbare Arbeit leisten, aber es sind zu wenige.“Das Wissen, daß Bluma nicht vergessen wurde, sei ein Trost, wenn es auch die geliebte Schwester nicht ersetzt.

Am Ort ihrer Ermordung zu stehen, sei der schwerste Moment hier in Hamburg gewesen: „Da hatte ich vor allem einen Gedanken: Warum?“

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