■ Schlagloch: Poesie der Landnahme Von Mathias Greffrath
This land is your land,
this land is my land.
Woody Guthrie
Das Foto war vor ein paar Wochen in der taz; es hat mich gerührt, und es geht mir nicht aus dem Kopf. Die blonde Frau ist alt und dick geworden, trägt das Hemd über der Hose, sieht nach viel zu viel, auch viel zu gutem Leben und gut versteckten Sorgen aus. Neben ihr die beiden Männer: der große im Sweatshirt mit Baseballkappe, mit dem Gesicht eines Fernfahrers, der auf die Sechzig zugeht; der andere, ein kleiner Professor aus der Unterschicht, weißer Haarkranz, Kugelkopf, mächtiger Schnurrbart und gewaltiger Kummer. Kein frischer Anblick, die drei. Sie stehen am Rande eines riesigen Feldes, Erdbeerfurchen, in Folie gehüllt, soweit das Foto reicht, am Horizont Wellblechbuden.
Der kleine Professor hält die zwölfsaitige Gitarre, die Finger greifen C-Dur. Peter, Paul and Mary singen, um den Kampf der kalifornischen Erdbeerpflücker für bessere Arbeitsbedingungen zu unterstützen. Ich hätte die drei nicht wiedererkannt, außer an den Ohren. Auf meinem Plattencover stürmen sie vorwärts, ordentliche College-Kids, die Männer im Anzug, button-down, mit schmaler Krawatte, Mary in hellblauer Bluse und gesetztem Rock. Das war kurz vor Mitte der Sechziger.
Ach ja. Die goldene Jugend. Mein Freund Andreas und ich lagen bis mittags im Bett, hörten dem Nach-der-Sintflut-Sopran von Joan Baez zu – und Peter, Paul and Mary. Die sangen: „This land is your land.“ Und wir waren neidisch auf dieses Land, in dem sich Rechte und Linke stritten, wer der bessere Amerikaner wäre, auf Leute, die Lieder singen konnten, die auch ihre Eltern schon gesungen hatten, weil die in den dreißiger Jahren beim New Deal waren. Bei uns sang Degenhardt: „Wo sind unsere Lieder?“ und antwortete: „Nazis haben sie zersungen.“
Aber Kritik ist nicht abendfüllend, man möchte ja auch wo dazugehören. Und so sehnten wir uns nach Zuständen, wo man mit seinen Kindern die Lieder singen könnte, die einem selbst die Großeltern beigebracht hatten. Bei uns waren die Wildgänse nach rechts gerauscht, im Brunnen vor dem Tore lag der braune Hund, und das erste politische Lied, das ich auf dem Schoß meines Großvaters gesungen habe, ging so: „Als wir 1870 nach Frankreich sind marschiert, da haben wir den Franzosen das Arschloch rasiert.“ Und so blieben wir tonlos – was die deutsche Tradition anging. Brecht-Eisler, ja ja, wegen der „Rekonstruktion der Arbeiterklasse“, an den Abenden nach dem Kapitalkurs, aber man mußte schon ziemlich viel gesoffen haben, um das Solidaritätslied für gegenwartstauglich zu halten. Später, als Kinder kamen, übte man aus „Ungerers Liederbuch“, aber es sackte nicht mehr so richtig nach innen.
Zurück zu Peter, Paul and Mary: Die stehen da also am Rande dieses unendlichen Erdbeerfeldes, mitten in der tiefsten Globalisierung, und singen, als wenn nichts geschehen wäre: „This land is your land, this land is my land.“ Das mischt Heimatliebe mit Besitzanspruch – und das ist die einzig brauchbare Definition von Patriotismus. Landschaft reicht nicht, Sprache reicht nicht, Kultur reicht nicht. Nation ist Besitz- und Umverteilungsgemeinschaft, ist Eigentum und Arbeit – und die Frage, was davon wem gehört. Die bürgerliche Nation begann, das wollen wir doch nie vergessen, mit dem Verbrennen der Grundbücher, also einem Akt der Umverteilung: Das Land denen, die es bebauen. Und die Macht im Staat, so der Abbé Sièyes, denen, die seinen Reichtum erarbeiten. Adam Smith sah den einzig moralisch vertretbaren Sinn des Privateigentums darin, alle reicher zu machen; noch Walther Rathenau sah in der Nation nicht den hobbes'schen Rahmen für die Privateigentumsgesellschaft, sondern die Besitzgemeinschaft. Bürgersozialismus, von dem ein Hauch noch durch Artikel 14 weht.
Nation trägt Emotion – also Lieder – nur kriegerisch oder als Besitzgemeinschaft. Und Demokratie trägt Emotion – also Lieder – nicht als Verfahren zum Austausch von Eliten, sondern als die Macht der vielen über den Reichtum der wenigen. Nach 1989 forderte Schäuble „das emotionale Element“. Zum Verfassungspatriotismus müßten „Liebe zur Heimat, Patriotismus und Nationalgefühl“ hinzukommen, um den inneren Zusammenhang der Gesellschaft „dauerhaft zu verbürgen“. Nur das Gefühl für die Nation „wecke die innere Bereitschaft, sich solidarisch und selbstlos für die Gemeinschaft einzusetzen“. Stimmt natürlich nicht. Umgekehrt wird eine Heimat draus: Patriotismus ist nur echt, wenn er einen Gebrauchswert hat. Menschen hängen an ihrer Heimat nicht wegen der Birken und der Bäche, sondern weil sie dort Rechte und Geborgenheit haben, weil sie dort ernährt werden, weil es dort friedlich und gerecht zugeht – oder gegangen ist.
Deshalb verschwand die Semantik der Schicksalsgemeinschaft ziemlich schnell, als die Sache praktisch wurde. Denn was hätte sie bedeutet? Eine gemeinsame Haftung für die Jahre 1933 bis 1989 und deshalb einen kräftigen Lastenausgleich für die DDR- Bürger, die wegen der Vorkommnisse in diesen Jahren 50 Jahre lang kein bürgerliches Eigentum bilden konnten. So haben wir die Einheit mit Sonderabschreibungen und Sozialtransfer innerhalb der Klasse bewältigt, aber ohne nationale Umverteilung. Und deshalb ohne Patriotismus und ohne ein einziges neues Lied. Die allzu verpflichtende Heimatliebe wurde umgetauscht gegen die Semantik der Globalisierung, die den Sachzwang zur Ungleichheit behauptet und uns alle zu Soldaten auf dem Schlachtfeld des Weltmarktes macht, ganz ohne Gesang.
Nation war ein Rahmen, in dem wir soziale Zugehörigkeit und historische Loyalitäten zu fühlen gewohnt waren, der andere war der Sozialismus. Nation und Sozialismus waren die letzten kollektiven Identitäten, die zu haben waren. Beide hatten ihre Lieder. Und Europa, dessen soziale Staatlichkeit, wie es Bourdieu so schön gesagt hat, eine Errungenschaft so kostbar wie Mozart und Goethe ist, hat noch keine. Nur einen Grand Prix.
Aber kann sich irgend jemand vorstellen, daß eine Welt, in der ein paar Multis pro Branche übrig bleiben, in der Mr. Gates die Leitungen kontrolliert und Murdoch und Bertelsmann die Bilder, in der Mr. Turner und seine Freunde dutzendquadratkilometerweise in Feuerland und anderswo ihre neofeudalen Besitztümer zusammenkaufen, ohne Gegenlandnahme bleibt, ohne den Ruf der Überflüssigen nach Arbeit? Und ohne Lieder?
Ich nicht. Und deshalb hat mich das Foto so berührt. Denn das wird immer ungefähr so beginnen wie die drei auf dem Bild: ziemlich klein am Rande eines großen Erdbeerfeldes, auf dem Chikanos und Einheimische malochen, zu abgestuften Löhnen. Mit einem sauguten Lied über die Schönheit der Welt und einer ziemlich starken letzten Strophe: „Da stand eine hohe Mauer und wollte mich aufhalten. Und ein Schild sagte: Privatbesitz. Mhm, aber auf der Rückseite sagte es gar nichts. This side was made for you an me.“ Alle Poesie ist Landnahme.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen