■ Der Castor-Skandal zeigt, wie wichtig die Anti-AKW-Bewegung ist: Die Legende von der Beherrschbarkeit
„Es wird viel Mühe kosten, den Ruf [der Kernenergiebranche] wiederherzustellen.“ Dieser Satz von Frau Merkel offenbart, daß die Oberaufseherin über die deutsche Atomindustrie ihren Job heftig mißverstanden hat; offenbart, worum es ihr eigentlich geht: den Schutz der Atomlobby. Dieser Satz adelt andererseits die Anti-AKW-Bewegung und ihre Methode der grundsätzlichen Kritik, ihr Denken in Größten Anzunehmenden Unfällen. Die Kritiker sind der Garant für ein Mindestmaß an Sicherheit – nicht Merkel.
Da mögen auch Merkel, die Energieversorger und all die Öko-Optimisten noch sooft über die „ewigen Zweifler“ und „Katastrophenbeschwörer“ herziehen: Die Vertuschung einer 3.000fachen Überschreitung der Strahlenschutzgrenzwerte über eine Dauer von zehn Jahren, belegt, daß den Stromversorgerkonzernen nicht zu trauen ist. Ob Merkel nun etwas gewußt hat oder nicht, ist dabei fast egal – denn man muß davon ausgehen: Sie wollte es nicht sehen. Ihre plötzliche Einsicht, ein von den Betreibern unabhängiges Meldesystem zu benötigen, kommt vier Jahre Amtszeit zu spät, um noch glaubwürdig zu sein.
Für die Anti-AKW-Bewegung folgt daraus: Sie tun auch weiter gut daran, vom schlimmsten Fall auszugehen. Nicht, daß dieser Skandal eine besonders große Gefahr an den Tag gebracht hätte – zum Glück. Doch der Skandal beleuchtet eine altes, gefährliches Prinzip: Wo die Beherrschbarkeit ihre Grenze hat, findet auch die Auskunftsfreude der Atombetreiber ihre Grenze. Dies begründet das Grundmißtrauen der Kritiker und führte schon vor zwanzig Jahren zur Gründung des Öko-Instituts und dem Versuch, der Beschwichtigungslobby unabhängigen Sachverstand entgegenzusetzen. Schon in den Achtzigern wiesen Atomkritiker vor Gericht auf das Problem des Restwassers auf der Castor-Hülle hin. Zwei Gutachter von der Betreiberseite sagten damals das Gegenteil und fanden das Gehör der Richter.
Sicherheit und Demokratie hängen engen zusammen. Die vielgelobte Sicherheit verdankt die Atomindustrie nicht zuletzt den Massenprotesten, den vielen Prozessen. Tschernobyl hat gezeigt, wohin mangelnde Transparenz und Kontrolle führen. Der Castor-Skandal zeigt, daß auch in Deutschland noch einiges zu verbessern wäre – und daß die Anti-Atombewegung wichtig ist wie am ersten Tag. Die Kritiker dürfen auch mal übertreiben, mal daneben schießen. Solange die nötige Transparenz fehlt, bleiben die Betreiber unter Generalverdacht. Eine Lektion, die etwa Shell nach dem Brent-Spar-Debakel, lernen mußte. Ein ähnlicher Lernprozeß steht den Stromkonzernen noch immer bevor. Matthias Urbach
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen