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■ Klasse statt Kurse. Baden-Württembergs Kultusministerin Schavan (CDU) will die Oberstufenreform rückgängig machen: weg von den Wahl-, zurück zu den Pflichtfächern. Betroffene Gymnasiasten wollen die Wahlfreiheit behaltenGeneralisten stat

Klasse statt Kurse. Baden-Württembergs Kultusministerin Schavan (CDU) will die Oberstufenreform rückgängig machen: weg von den Wahl-, zurück zu den Pflichtfächern. Betroffene Gymnasiasten wollen die Wahlfreiheit behalten

Generalisten statt Spezialisten

Das St.-Agnes-Gymnasium in der Stuttgarter Innenstadt ist gesichert wie eine Festung: Sprechanlage, Türsummer, Pförtnerin im vollen Ornat, Rauchen im Eingang verboten. Die Schülermitverwaltung (SMV) sprechen? Nein, da muß Schwester Friedberga erst die Rektorin fragen. Die schüttelt streng den Kopf. Was SchülerInnen zur geplanten Reform der Oberstufenreform meinen? „Die sind doch gar nicht informiert“, sagt die fromme Dame, und: „Nein, das möchten wir nicht.“

Im Stuttgarter Neuen Schloß sitzt die Theologin und baden-würtembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) seit Ende April täglich begeistert über ihrer Post. Und das, obwohl diese Resonanz sie schon viel Zeit gekostet hat: Interviews und Fernsehauftritte gab es. Aber das war es ihr wert. Noch nie habe sie, sagt sie, „soviel zustimmende“ Briefe erhalten. Elternverbände, Lehrer und Hochschulpersonal lobten sie parteiübergreifend für ihren öffentlichen Vorstoß zur Reform der Schulreform: weg vom Kurssystem, zurück zur Klasse, weg von Wahl- und wieder hin zu den Pflichtfächern. Das Kurssystem in den Gymnasien zwinge einerseits zu früh zur Spezialisierung, vernachlässige andererseits die Allgemeinbildung und sei darüber hinaus nicht interdisziplinär.

Ebenso parteiübergreifend war aber auch die Kritik. Die eigene Fraktion im Landtag fühlte sich übergangen und nannte den ministeriellen Alleingang vor Schreck erst einmal einen „Debattenbeitrag“. SPD und Grüne in Stuttgart schimpften die Initiative einen Schritt zurück in die sechziger Jahre und einen „Griff in die bildungspolitische Mottenkiste“.

Die Betroffenen in den örtlichen Gymnasien sind auch nicht gerade begeistert, daß sie künftig vom Dreisatz bis zum Integral und von der Quarta bis zur Oberprima Mathematik büffeln müssen und zudem jeweils vier verbindliche Wochenstunden deutsche Literatur bimsen und englische Verben konjugieren sollen. Und auch nicht darüber, daß sie diese Grundfertigkeiten im Abi auch noch schriftlich unter Beweis stellen müssen, wenn Schavan ihre Reform im Jahr 2001 durchsetzt. Die Zahl der Prüfungsfächer wird außerdem von vier auf fünf erhöht werden. Parallel dazu bietet Schavan das „Turbogymnasium“ an, in dem in einzelnen Klassen die Abiturreife in zwölf Jahren erreicht werden soll. An diesem Versuch nehmen in diesem Jahr acht Stuttgarter Schulen teil.

Die künftigen Generalisten am Stuttgarter Karl-Eugen-Gymnasium finden die ganze Debatte eher lächerlich. In den letzten beiden Jahren der Oberstufe mußten sie, wie seit 1993 in anderen Bundesländern auch, schließlich schon vor der Schavanschen Initiative durchgängig Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache belegen. Und die Deutschleistung war in Baden-Württemberg immer Bestandteil der Abi-Note.

Gegenüber sitzen die PrimanerInnen des Dillmann-Gymnasiums vor der großen Pause im Gasthaus Hotzenplotz und lernen lateinische Vokabeln. SMV-Sprecherin Johanna Eckert, blond und blitzgescheit, macht sich außerdem interdisziplinär physikalische Gedanken. Wenn nämlich jemand sich 80 Jahre lang in einem Auto mit 200 Stundenkilometer bewegt, beschleunigt er sein Leben um genau die fast vier Minuten, die einem vor Stundenbeginn immer fehlen.

Rainer Stollhoff und seine Mitschülerin Isabell kämpfen sich gerade durch ihre Reifeprüfung. Isabell möchte Hotelfachfrau werden und findet die Schule realitätsfremd. Daß eine Fremdsprache Pflicht wird, sei gut. Aber sonst konnte sie außer im Informatikkurs für ihren künftigen Beruf „eh wenig lernen“. Rainer Stollhoff, ebenfalls 13. Klasse, ist schon Generalist. Mit „sehr gutem“ Notendurchschnitt schwankt er in seiner Berufswahl zwischen „Software, Jura und Medizin“.

Aziza Freutel bereitet sich auf die Prüfung 1999 vor. Sie möchte Wirtschaftsjournalistin werden. Latein hatte sie nur „wegen des Lehrers“ gewählt. Rainer und Isabell erinnern sich, daß sie vor solchen Entscheidungen gewarnt worden waren: „Kurswahl ist kein Supermarkt!“ Ihnen war geraten worden, nicht nach Noten oder Freundeskreis zu entscheiden, sondern nach Neigung: „Es hat sich dann keiner richtig verwählt.“

Die Prüfungsaufgaben, meinen sie alle, sollten bundesweit angeglichen werden. Die Wahlfreiheit aber wollen sie behalten und praxisbezogen erweitert sehen. Aziza: „In anderen Bundesländern gibt es in den Leistungskursen Kombinationen, von denen wir nur träumen können.“ Rainer möchte eine Vernetzung etwa mit Wirtschaftsgymnasien, Isabell hätte gerne Korrespondenz gelernt. Aziza findet, daß Informationen und Alternativen für diejenigen fehlen, die sich weiterquälen, obwohl sie nach der 10. Klasse abgehen könnten. Der Leiter des Stuttgarter Leibnizgymnasiums, Rolf Albrecht, der dem Kurssystem einst sehr skeptisch gegenüberstand, erinnert sich an seine eigenen Erfahrungen nach der Reform von 1972. Die SchülerInnen seien heutzutage aktiver und hätten auch ohne feste Klassen in ihrem Jahrgang ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt. Kritisch äußert er sich zur von Konservativen gern behaupteten Spezialisierung durch Faulheit. Bildende Kunst, als Leistungskurs ernst genommen, sei eben „kein Schlupfloch für einen Schüler, der nicht rechnen kann“, so Albrecht.

Mit dem ministeriell geforderten höheren Niveau der Leistungen ist das in Baden-Württemberg derzeit so eine Sache. Seit einigen Wochen protestieren landesweit auch jene Verbände, die Annette Schavan theoretisch applaudiert hatten – gegen das diesjährige Mathematik-Abitur, das in einer ersten Auswertung deutlich schlechter ausgefallen war als all die Jahre zuvor. Es sei viel zu schwer gewesen. Philologen und Eltern kündigten Klagen an. Das Ministerium versprach inzwischen eine Prüfung und Korrektur der Ergebnisse bis zum Juni. Heide Platen, Stuttgart

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