: Der schüchterne Sprecher
Er gilt als unnahbar und kühl – und lebt ganz gut damit. Jürgen Trittin ist ein Parteichef, der lieber über Strukturen als über Leute redet – selbst wenn es um die letzten Kniffe für den Wahlkampf geht ■ Von Bettina Gaus
So ist er halt. Unnahbar. Nur wenige Worte wechselt Jürgen Trittin mit der Parteifreundin vom Kreisverband Marburg-Biedenkopf, die ihn am Bahnhof abholt. Kaum ist er in ihr Auto eingestiegen, hört er auch schon die Mailbox vom Handy ab. Schweigsam verläuft die Fahrt zur Stadthalle, wo eine Veranstaltung zur Ökosteuer stattfinden soll. Danach begleiten ihn einige Mitglieder des Kreisverbands durch den nächtlichen Park zu einem italienischen Restaurant. Sie üben Manöverkritik, flachsen, streiten. Trittin hält sich einige Schritte abseits. Der Vorstandssprecher von Bündnis 90/Die Grünen preßt wieder mal das Handy ans Ohr.
Was ist von diesem Parteichef anderes zu erwarten? Hat er nicht erst kürzlich, am Abend der Landtagswahl in Niedersachsen, einem Fernsehreporter eine derart rotzige Antwort gegeben, daß selbst enge Verbündete empört gewesen sind? Hat er sich dabei nicht auch noch bewußt provozierend über den Tisch gelümmelt, Faust vor dem Mund? Und zum Abschneiden seiner eigenen Partei nur irgendwas von „abwarten“ genuschelt? Als arrogant, unhöflich, eiskalt, abweisend und zynisch ist er auch früher schon beschrieben worden. Eindrucksvoller als mit einer derartigen Szene auf dem Bildschirm lassen sich solche Urteile kaum untermauern.
Zwei Stunden nach der Veranstaltung in Marburg, vor einem halbvollen Glas Weißwein und einem leeren Teller sitzend, ist Jürgen Trittin wie ausgewechselt. Er hört zu. Er widerspricht. Er lacht herzlich über die Witze anderer. Und blödelt selber: Allzu protestantisch gefärbt seien die Grünen. „Immer nach dem Motto: Ich habe Schuld auf mich geladen.“ Ein bißchen rheinischer Katholizismus bekäme der Partei gut. Da ließen sich Fehler mit der Beichte erledigen. Ganz gelöst sind die sonst oft so angespannten Gesichtsmuskeln. Für Trittin ist die Defensive der Normalzustand. Damit er die ablegen kann, braucht er vor allem eines: viel Zeit. Unnahbar? Der Mann ist einfach schüchtern.
Für einen Politiker ist Schüchternheit eine schwere Bürde. Viel Zeit hat er selten. Ob er ein Publikum für sich gewinnen kann, ob er die Presse auf seine Seite zieht, das entscheidet sich meist in den ersten Minuten einer Veranstaltung.
In Marburg hat Trittin oben auf dem Podium gesessen, als wäre er allein in seinem Büro, bevor er selbst zu Wort kommt. Mit gesenktem Blick macht er sich Notizen, während neben ihm Hubert Kleinert, hessischer Bundestagskandidat auf aussichtslosem Listenplatz, einleitende Worte spricht. Kaum einen Blick wirft Trittin ins Parkett des Saales, wohin trotz schönen Wetters fast dreihundert überwiegend junge Leute gekommen sind. Ungenutzt läßt er die Chance verstreichen, durch Lächeln oder Augenkontakt mit dem Publikum Fühlung aufzunehmen.
Dabei müßte der Parteichef doch inzwischen das Spiel der öffentlichen Selbstdarstellung im Schlaf beherrschen. Immerhin macht er schon sein ganzes Leben lang Politik. An der Schule, auf der Uni, in der K-Gruppe. Seit 1981 bei den Grünen, erst als Fraktionsassistent und Pressesprecher im niedersächsischen Landtag, später als Abgeordneter. Von 1990 bis 1994 war er Minister für Bundes- und Europa-Angelegenheiten im Kabinett von Gerhard Schröder. Seit 1994 ist er Vorstandssprecher der Bündnisgrünen. Und immer noch so zugeknöpft? „So sind wir Fischköppe“, sagt der gebürtige Bremer knapp.
Norddeutsche Politiker sind in Deutschland eigentlich immer nur populär geworden, wenn sie, wie Helmut Schmidt, militärischen Zack zu bieten hatten. Die Ausnahme: Willy Brandt. Aber Jürgen Trittin ist kein Willy Brandt. Ein Bad in der Menge, für viele Politiker die Krönung ihres Lebensgefühls, wäre vermutlich seine Vorstellung von Dantes Inferno.
Jürgen Trittin ist immer noch ein wenig länger auf der Hut als andere. Es ist ihm ein dringliches Anliegen, sowenig von sich selbst preiszugeben wie irgend möglich. „Wenn Sie damit anfangen, gibt es keine Grenze.“ Gegenüber einem solchen Gesprächspartner wird die harmloseste Frage zum indiskreten Übergriff. Hobbys? Freunde? Familie? Sind Informationen zu diesen Themen wirklich so wichtig, daß dafür dem Befragten soviel erkennbares Unbehagen zugemutet werden darf?
Wenn mangelnde Offenheit das einzige Problem wäre. Aber wie kann ein Profi sich vor der Kamera so benehmen wie eben Trittin? Ihm zufolge hatte das mißglückte Fernsehinterview eine Vorgeschichte: Gegen vorher getroffene Absprachen sei der Reporter hereingestürmt und habe dabei rücksichtslos Leute über den Haufen gerannt. Erbitterung schwingt in Trittins Stimme mit: „Ich finde, daß ich mich für das, was sich vor meinen Augen abgespielt hat, aufs äußerste zusammengenommen habe.“ Das kam anders rüber. Wem hat der Vorfall denn mehr geschadet, ihm oder dem Journalisten? „Mir hat es mit Sicherheit mehr geschadet. Das ist mir auch egal.“ Visier unten.
Wenn das Visier einmal hochgeklappt ist, dann ist Jürgen Trittin durchaus fähig zur Selbstkritik. „Ich bin in bestimmten Situationen sehr rechthaberisch.“ Auch den Fehler der Unduldsamkeit gesteht er zu. Und: „Daß ich arrogant bin, hat man mir schon gesagt, bevor ich das Wort buchstabieren konnte.“ Zu Recht? „Das mögen andere beurteilen.“
Das tun sie ja auch. Über keinen anderen Spitzenpolitiker in Deutschland, außer vielleicht noch über Gregor Gysi von der PDS, werden so umfassende Urteile gefällt wie über den bündnisgrünen Vorstandssprecher. „Gemocht wurde er nie in der Partei“, war kürzlich in der Zeit zu lesen. Trittin kann „den Menschen um sich herum kein Vertrauen einflößen“, stand im Stern. Oft wird ihm in einem Atemzug vorgeworfen, sein Fähnlein nach dem Winde zu hängen und stur an unhaltbaren Positionen zu kleben. Gleichzeitig? „Ich bin für die Partei und für das Böse zuständig“, sagt Trittin selbst und meint, daß es in der öffentlichen Wahrnehmung immer auch eine Zuschreibung von bestimmten Rollen gebe.
Aber es gibt nicht nur die öffentliche Wahrnehmung, sondern auch die interne. Viele Parteimitglieder haben Trittin für das verheerende Erscheinungsbild der Bündnisgrünen in den letzten Monaten verantwortlich gemacht. Der Parteilinke habe den Realos zu weit nachgegeben, sagten die einen. Er habe sich allzu lange notwendigen Einsichten verweigert, sagten die anderen.
Trittin selbst mag in diesem Zusammenhang keine eigenen Fehler eingestehen. Das tut er nie, wenn er unter Druck gerät. Er sieht ein strukturelles Problem, verbunden mit allzu großem Optimismus aufgrund guter Umfragewerte. „Vor zwei Jahren waren alle damit beschäftigt, Kabinettslisten aufzustellen. Als ich gesagt habe, wir seien nicht krisenfähig, haben doch damals alle gelacht.“ Jetzt habe sich eben gezeigt: Die Partei sei „nicht belastungsfähig“.
Die nächste Probe der Belastungsfähigkeit steht am Sonntag bevor. Da soll der Länderrat in Bonn ein entschärftes Kurzprogramm verabschieden, von dem nach dem öffentlichen Aufschrei über Parteitagsbeschlüsse wie einen langfristig angepeilten Benzinpreis von fünf Mark pro Liter eine Verbesserung der Wahlchancen erhofft wird. Öffentlich beschwören Partei- und Fraktionsspitze seit Wochen die Geschlossenheit der Partei. Abwarten.
In der Vergangenheit ist es bei prominenten Grünen der verschiedenen Strömungen zugegangen wie auf einer Wippe: Waren die einen unten, waren die anderen oben. Zum ersten Mal müssen sie jetzt im gemeinsamen Interesse die Wippe im Gleichgewicht halten. Bietet die Partei auf dem Länderrat erneut ein Bild der Zerrissenheit, dann wird sie in Bonn nicht mitregieren – und weder Jürgen Trittin noch Joschka Fischer, weder Kerstin Müller noch Gunda Röstel können auf Ministerposten hoffen. Vieles hängt jetzt von der Basis ab. Deren Verhalten ist schwer berechenbar.
„Es gibt einen veritablen Basis- Überbau-Konflikt“, räumt Jürgen Trittin ein. „Der wird potentiell eher schärfer.“ Der Verdacht, es sei bislang ganz einfach der Versuch gescheitert, die Basis mit Hinterzimmer-Kompromissen der Führungsspitze über den Tisch zu ziehen, läßt den Vorstandssprecher alle Zurückhaltung vergessen. Er reagiert wütend: „Es gibt kaum eine Partei, wo eine so breite programmatische Beteiligung stattfindet wie bei uns. Da kann nun wirklich nicht die Rede davon sein, daß etwas durchgezockt werden soll.“
Der Vorwurf einer Kungelei der Hierarchen geht bei Trittin ans Eingemachte. Er stellt das in Frage, was selbst langjährige parteiinterne Widersacher als die Stärke des Vorstandssprechers beschreiben: „Trittin hat viel für die Integration der Partei getan“, sagt Fraktionschef Joschka Fischer, der im allgemeinen nicht gerade zu seinen Bewunderern zählt. Aber Integration alleine sei „nicht hinreichend“, hat Trittin schmerzlich lernen müssen. Das sei das „Fatale“ am Verlauf des Parteitags in Magdeburg gewesen: „Man muß sich sehr klar sein, daß man nichts mehr für die Schubladen produziert. Den Leuten ist klar, daß das, was man macht, auch mal Wirklichkeit werden kann.“ Das ist ja das Problem. Das nimmt auch den parteiinternen Konflikten alles Spielerische.
Niemand bleibt bei den Bündnisgrünen lange Parteichef. Der Posten des Vorstandssprechers ist ein gutes Sprungbrett für weitere politische Ambitionen. Trittins Vorgänger Ludger Volmer sitzt schon im Bundestag. Auch er selbst wird wohl dahin kommen, nachdem es ihm gelungen ist, in Niedersachsen den besten Männer-Platz der Landesliste zu erringen.
Der Nominierung waren Hahnenkämpfe vorangegangen. Zwei Rivalen hatten gegen den Parteichef kandidiert. Im Vorfeld war über einen möglichen Rückzug Trittins aus der Politik spekuliert worden, sollte er verlieren. Aber es ist fraglich, ob der 43jährige Berufspolitiker viele Optionen offen gehabt hätte.
Was kann so einer tun, der über keine nennenswerten Erfahrungen außerhalb der Politik verfügt, wenn er eines Tages nicht mehr gewählt wird? Die Antwort auf diese Frage kommt überraschend locker. Jürgen Trittin lacht, völlig entspannt: „Mach' ich mir wirklich Sorgen? Ich mach' mir keine Sorgen. Ich muß ja nicht für andere aufkommen. Ich muß nur für mich sorgen.“
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