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Alle meine Weltmeisterschaften

Höchstens die Mondlandung und Dianas Sarglegung haben mehr Menschen bewegt als Fußball-WM-Endspiele. Eine Autobiographie  ■ Von Albert Hefele

Endspiele um die Fußballweltmeisterschaft sind, das weiß ja wohl jedes Kind, die wichtigsten Sportereignisse auf der ganzen Welt. Vielleicht sogar die wichtigsten Ereignisse überhaupt. Nicht gleich ans Hirn tippen, erst mal nachdenken. Welches Ereignis hat wohl mehr Menschen interessiert, als – sagen wir mal – das 94er Endspiel zwischen Brasilien und Italien? Die Wiedervereinigung? Lächerliche Kellerparty. Papstmesse? Windiger Katholenauflauf. Und was wird mehr interessieren als das WM-Finale 1998?

Es gab ziemlich genau zwei Veranstaltungen, die mehr Menschen aufgewühlt haben: die erste Mondlandung und Lady Dis Sarglegung. Events, die sich schwerlich wiederholen werden. WM-Endspiele sind alle vier Jahre. Und damit biographische Eckpfeiler im Leben eines jeden Menschen. Ob er will oder nicht. Ich will.

Juni 1954: Schweiz

Ich bin nicht größer als der Küchentisch und trage Sandalen mit scheppernden Schnallen zur Strumpfhose und baumwollene Inkontinenzeinlagen. Unser Radio steht ganz oben auf dem weißlackierten Schrank. In unerreichbarer Höhe, glänzend braun und beige mit großen Knöpfen für laut und leise und Senderwahl. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es etwas gibt, was gewaltiger ist als unser Küchenschrank.

„Toarrw! Toarwww!“ dröhnt es von droben. Es ist der Radiosprecher Zimmermann, aber der Name sagt mir noch nichts. Bewundernd sehe ich meinen älteren Bruder das Küchermatterhorn erklimmen. Er will den Sender nachstellen, wegen Empfang. Dabei verhakt sich seine grobmaschige Strickweste an einem Schrankschlüssel.

Mein Bruder verliert das Gleichgewicht und wie eine braun-beige- weiße Lawine rummst der Schrankaufsatz samt darin befindlichen Tassen und Tellern und Schüsseln und Schalen sowie das Radiogerät aufs Stragula. Haarscharf an meiner staunenden Person vorbei.

Zimmermann quietscht noch einmal kurz auf, dann herrscht die Stille nach der großen Katastrophe. Während mein Bruder jammernd die Scherben einsammelt, gehe ich mit klappernden Sandalen meiner Wege. Um ein Haar hätte bei meiner ersten Endspielteilnahme mein letztes Stündlein geschlagen.

Juni 1958: Schweden

Irgendwie geht mir diese Weltmeisterschaft am Arsch vorbei. Pelés großer Auftritt und die Flankenläufe des ebenso göttlichen wie krummbeinigen Garrincha... In zwei Monaten soll ich zur Schule gehen. Der Gedanke daran macht mich melancholisch.

Juni 1962: Chile

Eine äußerst rätselhafte Geschichte. Alle Bilder, an die ich mich erinnern kann, erscheinen mir diffus und wie mit Mattzeichner aufgenommen. Als wären sie von diesem englischen Päderasten fotografiert. Spiel meine eventuell schon damals einsetzende Kurzsichtigkeit eine Rolle? Oder die mulmige Wiedergabe des Fernsehers ... der wo stand?

Im Heimathaushalt jedenfalls nicht, soviel ist sicher. Bleiben nur Tante Minna und Onkel Reinhold mit dem Blockwarthaarschnitt und meinen säuerlich riechenden Cousins. Ein dunkler Herr mit Kopfverband taucht immer wieder aus dem schwarzweißen Gries auf. Und der damals noch nicht so blütenweiß gelockte Fahrian, elegant und doch vergeblich nach dem Balle fliegend. Ein Endspiel war das nicht.

Juli 1966: England

Ein Endspiel, das ich nie vergesse. Weil: meine Fußballeidenschaft steht erstmals in voller Blüte. Ich hüte das blaue Aral-Album wie den Schatz des Pythagoras und klebe Zeitungsausschnitte in karierte Hefte. Außerdem haben wir endlich ein TV-Gerät und italienischen Besuch. Den meine Mutter aus dem Ausländerheim (das gab es damals noch), in dem sie putzen ging (das auch), mitgebracht hat. Vier gelenkige Herren in zu kleinen Anzügen, die ihre anfängliche Scheu rasch ablegen und unser stilles Wohnzimmer zunehmend mit beachtlichem Radau überziehen.

In Ermangelung eigener Erfolge adoptierten sie einfach unsere deutschen Ballzauberer. Noch heute sehe ich die sorgenvoll gekräuselten Augenbrauen meines Vaters, angesichts eines im Überschwang gegen die Lampe scheppernden Südländers. Und wie er vorsorglich die beige Fernsehweste bis ganz oben hin zuknöpft.

Ansonsten ist es ein Drama, und schuld hat der ebenso eitle wie perfide Linienrichter Bachramov, der übrigens einige Zeit später mit 66 Jahren verstirbt. Das sollte doch zu denken geben. Am 3.2., das stimmt natürlich nicht. Aber es wäre zu schön gewesen.

Juni 1970: Mexiko

Die erste Weltmeisterschaft, die ich rauchend absolviere. Batavia- Drehtabak und Efka-Blättchen. An einem schönen Sommerabend gibt es das Halbfinale gegen die Italiener, von denen wir diesmal keinen Besuch haben, dafür aber von einer Tante, die so ähnlich heißt wie das Pferd des Ritters von der traurigen Gestalt: Rosina. Sie ist ein Nervenbündel. Obwohl sie ebensowenig wie meine Mutter die geringste Ahnung vom Fußball hat, verschanzen sich beide in der Küche und kochen exzessiv Kaffee, um dem Thrill zu entgehen. Alle halbe Stunde lugen sie herein, um anschließend wieder kreischend das Weite zu suchen.

Schnellingers Ausgleichstor in der Zweiundneunzigsten werde ich wohl noch auf dem Totenbett gedenken.

Juli 1974: Deutschland

Irgendwas fließt da ineinander, macht mir Knoten in die Neuronen. Walter Scheel und Helmut Schön, großohrig und knollennasig. Heide Rosendahl und Franz Beckenbauer. Terroristen auf dem Balkon und Ersatzspieler auf der Bank, alle in denselben milde kunststoffblauen Trainingsanzügen. Schnauzbärte, Afrolook und Koteletten allenthalben. Und immer wieder Wasser auf dem Platz.

Sonst nix? Sonst nix.

Langweilig wie das Münchner Olympiastadion und Tip und Tap. Die ebenso seelen- wie witzarmen Maskottchen dieser Weltmeisterschaft. In ihrer Emotionalität Endspiel-Kommentator Rudi Michl nicht unähnlich: „Nach innen, geh nach innen ... entschuldigen Sie, daß ich so persönlich geworden bin.“ Wahrscheinlich gilt meine Leidenschaft während dieser Zeit anderen Dingen.

Moni hieß die eine, glaube ich.

Juni 1978: Argentinien

Ende der 70er Jahre, Tiefpunkt meiner bisherigen Existenz. Graue Tage in der Kunststoffabrik; die Nächte in tabakrauchvernebelten, klebrigen Lokalen. Ich besitze einen Underberg-Gürtel und einen äußerst diffusen Freundeskreis. Rolli, der Kunstmetzger und den später an Leberversagen eingegangenen Frosch-Franz. Von der WM weiß ich noch Leopoldo Luque, der mich an den Hund der „Kleinen Strolche“ erinnert, weil der auch immer ein blaues Auge hatte.

Nach der Blamage von Cordoba (Dooa! Dooa! Dooa! I und da Obaenschineea Griwanek bussl'n uns ob!) treffen sich die Experten im Café Mohren zum Zwecke der Analysis: „Wie kann der Kaltz als Libero stellen? – Mit Grabi und Becke wären wir locker ins Endspiel gekommen ...“ Es ergeht der Beschluß, erst mal 22 Underberg- Fläschchen zu leeren, um die strategische Aufstellung nachzubilden. So geschieht es dann auch.

Juli 1982: Spanien

Rossi, Rossi, Rossi. Italien–Brasilien. Der Seitfallrückzieher von Fischers Klaus und Schumachers Mordversuch an Battiston. Ansonsten Amnesie und ein taubes Gefühl um die Stirne. Was war los? Krankheit? Blinddarmentzündung oder Polypen? Spermaverklebungen? Ich weiß es nicht ...

Juni 1986: Mexiko

Wieder ein gewaltiger Einschnitt in der Biographie. Eheschließung und Teilhabe an einem Reihenhäuschen plus dazugehöriger Nachbarschaft. Während der Weltmeisterschaft kann man schon im Garten sitzen und sich durch die dürren, frisch angepflanzten Heckenfragmente zunicken. Einmal dringt sogar eine scheue Einladung zur gemeinsamen TV-Betrachtung herüber. Aber: Mein Nachbar ist einer von denen, die am Samstagvormittag in einen roten Overall gehüllt und mit der Heimwerker-Kalaschnikow (Hilti) bewaffnet, unternehmungslustig nach Heimwerkerkrisengebieten spähen. Um sie dann hilfreich zu okkupieren; ob man will oder nicht. Eine vorschnelle Verbrüderung – und man hat so einen für ewig am Hals und alle Räume voller Holzdecken.

Lieber nicht.

Mexiko kommt, wie schon 70, brütendheiß über den Sender, und Franz Beckenbauer steht erstmals bei einer WM am Spielfeldrand. Mit beleidigt gefaltetem Mündchen: „Das hätte ich aber besser gekonnt ...“ Wo er recht hat, hat er recht. Die Mannschaft kommt trotzdem ins Endspiel.

Juli 1990: Italien

Obwohl meine Fußballbegeisterung wegen Dauerberieselung ständig abnimmt, bin ich persönlich vor Ort. „Einmal muß man's ja mit eigenen Augen gesehen haben.“ Erster Eindruck: Ein Inder, den ich mit dessen eigener Kamera und viel zu langer Belichtungszeit vor dem Mailänder Dom ablichten muß. Und der sich, wie es Inder- Art ist, aufwendig in Pose stellt, obwohl ... na ja: Inder und Technik.

Sonst – massenhaft blaue Carabinieri mit Gummiknüppeln, die nur darauf warten, daß man ein deutsches Wort sagt. Um einen dann schon am Bahnhof gründlich zu verhauen. Dabei wimmelt es von Menschen, die geradezu nach Prügel schreien. Dick, dumm, faul und gefräßig in deutsche Trikots und Fahnen gewickelt. Immerzu – „Höö! Höö!“ – rempelnd und laut „Sigg!!“ bellend.

Bin ich auch so? So bin ich nicht. Warum geh' ich dann da hin? Weiß nicht so recht. Zur Strafe muß ich mir jedenfalls die drei langweiligsten und schlechtesten Spiele des deutschen Teams ansehen: Gegen Saudi-Arabien, gegen Kolumbien und das Viertelfinale gegen die Tschechen. Geschieht mir recht.

Juni 1994: USA

Je mehr Bildmaterial einem um die Ohren gehauen wird, desto weniger bleibt hängen. Seit Anfang der 80er Jahre zerflimmert eigentlich alles zunehmend zu einem undefinierbaren buntscheckigen Fußball-Puzzle. Spieler, Rasen, Reklamebanden, Zuschauer, Schwarze, Weiße, Gelbe, Rote, alles torkelt umeinander in einem schwer greifbaren Ringelreihen. Effenbergs Finger ragt einsam aus dem bunten Wust der Amerika-WM. Aber sonst? Spielen die Förster-Brüder noch, oder ist das schon Klinsi? Müller oder Möller? Wer trainiert? An Otto Nerz kann ich mich noch erinnern, und Seppl Herberger. Aber was tut Vogts auf der Bank? Der ist doch Manndecker!

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