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Ein schlichter Stein erinnert an 137 Tote

Von acht Jahren schockierten Berichte über die Zustände in einem rumänischen Kinderheim für Behinderte die Öffentlichkeit. Mit deutscher Hilfe ist es heute für die Kinder und Jugendlichen zu einem Zuhause geworden  ■ Aus Cighid Wolfgang Gast

Der zehnjährige Florin Guba ist blind, und es scheint, als habe sein Körper im Alter von vier jedes weitere Wachsen verweigert. Der Junge mit den kurzgeschorenen blonden Haaren sitzt auf dem rechten Oberschenkel des Kinderarztes. Den Daumen in den Mund gesteckt, schlägt er seinen Kopf rhythmisch gegen die Schulter des Mediziners. Daß er das tut, ist schon ein Fortschritt – acht Jahre nach der grausigen Entdeckung des Kinderheimes im rumänischen Dorf Cighid nahe der ungarischen Grenze. Florin, der vor fünf Jahren aus einem Kinderheim in der rund zwanzig Kilometer entfernten Kreisstadt Oradea nach Cighid kam, hatte seinen Kummer gegen sich selbet gerichtet: Er war autoagressiv. Ganz in sich zurückgezogen, rastete er aus, wenn sich Menschen ihm nur näherten. Zwei Jahre dauerte es allein, bis das Kind eine Berührung ertragen konnte.

Durch einen eisernen Bogen mit der Aufschrift „Caminul Spital Cighid“ (Heimkrankenhaus Cighid) gelangte man einst auf das Gelände des abgelegenen und verwahrlosten Jagdschlosses, in das im Reich des Diktators Nicolae Ceausescu Kinder als sogenannte „Irecuperabili“, als „Unwiederbringliche“, gesteckt wurden. Es waren vor allem behinderte und in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Kinder, die, abgestempelt als nutzlose Esser, in Heimen wie in Cighid dem Tod entgegen dämmerten. Viele überlebten das Leid nur ein paar Monate, manche nicht einmal einige Wochen. Es war, wie Fachleute später sagten, eine „Euthanasie durch die Verhältnisse“.

Das Tor liegt heute demontiert auf Rasen. Nur wenig erinnert noch an den Ort, der Anfang der neunziger Jahre als „Kinder-KZ“ und „Kindervernichtungsheim“ Schlagzeilen machte und in dem in den drei Jahren, die das Heim existierte, 137 Kinder erfroren, verhungerten und vielleicht sogar von den stärkeren ihrer Leidensgenossen umgebracht wurden. Die eisernen Bettgestelle, in denen die Kinder inmitten vom Kot, Erbrochenem und Müll dahinvegetierten, umfassen heute den Friedhof. Dort steht ein schlichter Stein mit den Namen der Kinder. Als häufigstes Todesalter ist die Zahl Drei in den Stein gehauen.

Mit Spendengeldern in Millionenhöhe ist das Schloß zwischenzeitlich renoviert worden, am Freitag vergangener Woche weihten Kinder und Betreuer, Projektträger und Politiker vier neu errichtete Gebäude ein, als Internat für die Älteren der rund 100 überlebenden Kinder. Das Heim hat seinen Schrecken verloren. Es ist heute ein Ort mit quirligem Kinderleben und behutsamen Betreuerinnen. Lotzi ist einer der ältesten Insassen und einer der wenigen, die an die schlimmen Jahre bewußte Erinnerungen haben. Der hagere junge Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht ist 21 Jahre alt. Man würde ihn eher auf sechzehn schätzen. Lotzi besucht heute die Schule im wenige Kilometer entferntem Dorf Ghiorac. Er träumt davon, einmal Busfahrer zu werden. Zweitbester in der sechsten Klasse ist er, im Kinderheim versorgt er voller Hingabe die Schweine in den Ställen und die Kühe auf der Wiese. Leise und abgehackt erzählt er: „Wir hatten keine Kleidung, die Betten waren kaputt, wir mußten aus Kübeln essen. Es war sehr kalt im Schlafzimmer, die kleinen Kinder erfroren.“ Der Alptraum war weit schlimmer, als es Lotzi zu erzählen vermag. Die Verdrängung ist Schutz vor der grausamen Vergangenheit.

Als erste berichteten Journalisten von Spiegel und „Spiegel-TV“ im März 1990 über das Heim am westlichen Rand Rumäniens. Sie stießen unter anderem auf einen „Izolator“ genannten fensterlosen Raum, in dem schwer hospitalisierte Kinder bei Minusgraden eng aneinander kauerten. Einige trugen verschmierte Fetzen, einige waren nackt. Die Arme derer, die außen saßen, waren vor Kälte mit Reif überzogen, vom Sitzen im Unrat hatten die Kinder Geschwüre, die kahlgeschorenen Köpfen waren mit offenen Wunden übersät. Essen hatten sie nie gelernt, wie am Fließband stopfte das Heimpersonal ihnen dem immer gleichen Brei in den Mund.

In ihrem Bericht hielten die Reporter aus Deutschland damals fest: „Wir sind durch das Vestibül eingetreten in einen Geruch, der mehr ist als die Summe der Fäkalien von den 109 hier lebenden Kindern, für die es nur zwei Toiletten gibt. In diesem Geruch eingegangen ist der Dreck von Jahren, der verstockte Stoff, der Schwamm in den Wänden, die vergammelten Essensreste. Moder, Fäulnis, Verwesung liegt in der Luft, und wir müssen uns zusammenreißen, um uns nicht zu übergeben. Wir bewegen uns in einer Welt, in der die zivilisierte Vorstellung von Hygiene ebenso verschollen ist wie die Menschenwürde.“

Die Menschenwürde ist zurückgekehrt. Der „Izolator“, in dem die Zehn- bis Fünfzehnjährigen eingesperrt waren, ist heute in hellem Gelb gestrichen, zehn grüne Kinderbettchen sind wie am Schnürchen aufgereiht. Ein buntes Schiff und freundliche Gesichter sind an die Wand gemalt, für jedes der Kinder steht ein Zahnputzbecher in einem kleinen Regal. Wie in den anderen Zimmern des Schlosses hängt für jeden der kleinen Bewohner ein Plüschtier an der Wand.

Diese Entwicklung ist vor allem ein Verdienst von Pawel Oarcea, dem Kinderarzt und Leiter des Heims, wie auch von Karl-Heinz Pelikan, dem in Siebenbürgen geborenen Pfarrer der Frankfurter Dankesgemeinde. Er baute die „Rumänienkinder- und Jugendheimhilfe“ beim evangelischen Stadtjugendpfarramt im evangelischen Regionalverband Frankfurt am Main auf. Von seiner Gemeinde für dreieinhalb Jahre freigestellt, koordinierte er die Renovierung und die Bauprojekte auf dem Gelände.

Der Mediziner Oarcea war nach dem Zusammenbruch des Ceausescu-Regimes der einzige Arzt, der sich bereit fand, nach Cighid zu gehen und sich der Kinder anzunehmen. Sechs Monate wollte der schmächtige und stille Mann ursprünglich bleiben, acht Jahre sind bis jetzt daraus geworden. Es werden wohl noch einige dazu kommen. „Sie sind meine Kinder geworden“, sagt Oarcea. Es würde ihm schwerfallen, „wenn man sie mir wegnehmen würde, oder ich sie verlassen müßte“.

„Richtige Wunder sind hier passiert.“ Das sagt auch Pfarrer Pelikan. Zustande kamen sie, weil vor allem in der Bundesrepublik nach den Berichten über die Zustände in dem Heim in einer beispiellosen Welle der Hilfsbereitschaft rund dreieinhalb Millionen Mark zusammenkamen. Die Gelder floßen in verschiedene Behindertenprojekte, auch das Schloß wurde aus den Mitteln renoviert.

Und weil es in Rumänien keine Ausbildung zur Betreuung behinderter Kinder gibt, wurden die neu angestellten Heimmitarbeiter im Rotationsprinzip von Pädagogen der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg unterrichtet. Auf dem Lehrplan stand unter anderem das „KZ- Syndrom“, das heißt das Erlöschen des Lebenstriebes als Folge unterträglicher Verhältnisse.

Vor drei Jahren wurde der Bau des Internats in Angriff genommen. Es wurde nötig, weil aus den Kinder Erwachsene werden, die nach rumänischem Recht im Alter von achtzehn Jahren das Schloß eigentlich verlassen müßten – was in Ermangelung anderer Einrichtung in Rumänien die Einweisung in geschlossene psychiatrische Anstalten zur Folge hätte.

Am Tag der Einweihung der neuen Häuser, in denen 24 Erwachsene künftig wohnen sollen, scheint im Schloßpark die Sonne. In den neuen Gebäuden entlang der kleinen Straße riecht es nach frisch verlegtem Linoleum. Die letzten Bauarbeiten wurden in der vergangenen Nacht abgeschlossen, die Eingangsstufen mußten noch betoniert werden. Im letzten der vier hintereinander liegenden Gebäude ist ein kaltes Buffet angerichtet. Aufmarschiert ist unter anderem die Staatssekretärin für Behindertenfragen aus dem Büro des Staatspräsidenten Constatinescu; auch der örtliche Vorsitzende des Kreises Bihor gibt sich die Ehre. Zwei Popen segnen nach orthodoxem Ritus die Neubauten ein, sprengen Weihwasser auf die frisch getünchten Wände.

Umgerechnet 230.000 Mark haben die rumänischen Behörden für die Bauarbeiten aufgebracht, die Dankesgemeinde aus Frankfurt- Goldstein schoß aus Spendengeldern 375.000 Mark zu. Nachdem die ursprüngliche Kalkulation überzogen wurde, sprang auch die Hamburger Alsterdorf-Stiftung noch einmal mit 60.000 Mark ein.

Es ist ein großer Tag für Robi und Linda. Stolz halten beide ein dunkelrotes Samtkissen. Darauf liegt die Schere, mit der sie die vor die Türen gespannten bunten Bänder durchtrennen sollen. Robi lag im Sterben, als ihn der Arzt Oarcea vor acht Jahren fand. 7,7 Kilogramm wog der damals Vierjährige, soviel wie ein Säugling mit sieben Monaten. Heute geht er in die vierte Klasse der Ghioracer Schule, und ein wenig altklug bezeichnet er sich und seine Freunde als die „kleineren Leute“.

Als nächsten Schritt will die Projektgruppe Rumänienhilfe der Frankfurter Kirchengemeinde bis Jahresende eine Stiftung nach bundesdeutschen Recht ins Leben rufen und dafür Spenden sammeln. Sie soll Trägerin des Schlosses und des Internats werden. Die Zinsen aus dem Stiftungskapital (angepeilt sind 100.000 Mark als untere Grenze) sollen den langfristigen Unterhalt des Modellprojekts Cighid sicherstellen helfen, sollen Essen, Heizung und Kleidung finanzieren. Aus dem finsteren Heim soll für die Überlebenden des „Gaminul Spital Cighid“ eine dauerhafte Heimat werden.

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