: Hat sich der Wind gedreht?
Vor fünfzig Jahren kamen die ersten schwarzen Arbeitsmigranten aus der Karibik nach Großbritannien. Es wurde zunächst keine Love-Story, aber mittlerweile sind sie fast musterhaft britisch geworden. Jetzt werden sie mit Veranstaltungen und Fernsehsendungen gefeiert ■ Von Carola Torti und Mark Stein
Der schwarze britische Romanautor Caryl Phillips räuspert sich augenzwinkernd. Dann entschuldigt er sich für seine heisere Stimme bei den Zuhörern. „Ich war gestern abend in Frankreich und habe dort eine Fußballmannschaft namens England angefeuert.“ So richtig zugehörig fühlte sich der Sohn karibischer Einwanderer allerdings nicht: „Wie oft die Rule Britannia gesungen haben! Das hat mich geschockt.“
Die Ansprüche auf Weltherrschaft scheinen sich nach wie vor einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen. Die heutige Veranstaltung hat mit Fußball jedoch nichts zu tun. Es ist eine Podiumsdiskussion karibisch-britischer Schriftsteller, anläßlich des Jubiläums der Empire Windrush.
Mit zahlreichen Veranstaltungen und großer Medienpräsenz feiert Großbritannien in diesem Sommer die Ankunft dieses Schiffes, mit dem vor fünfzig Jahren die erste große Welle karibischer Arbeitsmigration nach England begann. Das „Windrush-Jubiläum“ rückt die kolonialen Ursprünge der multikulturellen britischen Gesellschaft in den Blick.
Aber die Ankunft des Empire im Mutterland hat auch dazu beigetragen, die Definition britischer Identität pluralistischer zu machen. Briten karibischer Abstammung gehören nicht nur als Rasta zum Alltagsbild der großen Städte. Ein schwarzes Gesicht in einem britischen Paß ist seit langem kein Unikum mehr.
492 Arbeitsmigranten aus Jamaika, Trinidad und Guyana hatte die Empire Windrush im Juni 1948 geladen: Arbeitskräfte für den Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren. Arbeitsmigration zwischen den karibischen Inseln und dem US-amerikanischen Festland hat in der Region Tradition: Auf den Inseln war schon lange die Arbeit knapp. Warum also nicht auch ins englische Mutterland aufbrechen, als das es sich über Jahrhunderte selbst stilisiert hatte?
In der Ausstellung Windrush – Sea Change (“Meereswende“) im „Museum of London“ zeigt das Bild der einlaufenden Windrush Hunderte von erwartungsvollen Gesichtern. Herausgeputzt, mit Anzug, Krawatte und Hut blicken sie in die ungewisse Zukunft. Auf großen Tafeln klebt die Passagierliste mit Angaben zu jedem einzelnen der Ozeanüberquerer: 1.024 Seelen, inklusive zweier blinder Passagiere.
Die Migranten erkennt man an dem Vermerk „ohne Wohnsitz“. Spannend die Interviews mit Passagieren, die sich heute an die Ankunft und die erste Zeit im kalten, dunklen Herzen des Kolonialreichs erinnern.
Für die meisten karibischen Windrush- Passagiere war es die erste Reise nach Europa, erinnert sich Steve Mitchell: „Viele Männer auf der Windrush waren noch nie in Großbritannien gewesen. Die wurden ganz schön enttäuscht. Sie landeten mit fünf Pfund in der Tasche und ein paar Anzügen, aber ohne Wintermantel. Wir waren einfach überhaupt nicht vorbereitet.“
Genausowenig war das England der Nachkriegszeit wirklich bereit für die Aufnahme der schwarzen Söhne. Kurzfristig wurde der ehemalige Bunker der U-Bahn Station Clapham Common als Notunterkunft für 230 Menschen bereitgestellt. Kurz vorher waren hier noch deutsche und italienische Kriegsgefangene einquartiert.
An Bord des Schiffs waren hauptsächlich junge Männer, wenige Frauen und als einziges Kind der dreizehnjährige Vincent Reid. Der heute pensionierte Lehrer erinnert sich: „Ich war ganz erstaunt, hier weiße Kofferträger zu sehen. So halb hatte ich wohl gedacht, die müßten schwarz sein, so wie zu Hause. Ich hatte noch nie weiße Leute arbeiten sehen.“
Für ihn waren das die ersten Zeichen für die Härte der Nachkriegsrealität, auf die keiner von ihnen so recht vorbereitet war: „Wenn es hier sogar weiße Arbeiter gibt, dann sind die Straßen sicher nicht mit Gold gepflastert.“ Die übertriebenen Erwartungen der Migranten ähneln ironischerweise den Erwartungen europäischer Siedler an die Neue Welt in Amerika.
Ihre Hoffnungen wurden oft enttäuscht. Arbeit zu finden war nicht das Problem. Aber eben die Art von Jobs, die sonst keiner haben wollte. Auf der Passagierliste finden sich Berufe wie Mechaniker, Ingenieur, Friseur, Musiker, Schuhmacher, Schreiner. Einige waren Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg im jamaikanischen Regiment für die Kolonialmacht gegen Deutschland gekämpft hatten. England aber hatte Jobs auf dem Bau, bei der Müllabfuhr und im Schichtdienst zu bieten.
Mit der Schlagzeile „Welcome Home“ begrüßte die Londoner Zeitung Evening Standard am 21. Juni 1948 die Neuankömmlinge. Der heute gut siebzigjährige Cecil Holness war im Zweiten Weltkrieg Soldat. Ohne die gleichmachende Uniform gab ihm England nicht mehr das Gefühl, dort zu Hause zu sein. „Jetzt ist der Krieg zu Ende, wann fahren Sie denn zurück in Ihr eigenes Land?“ sei er immer wieder gefragt worden. „Daran erinnere ich mich.“
Die Briten karibischer Abstammung, die man über drei Jahrhunderte lang aus der Ferne regiert hatte, plötzlich vor der eigenen Haustür? Skepsis und Unsicherheit waren groß. Aber die Einwohner der Kolonien und Exkolonien hatten britische Pässe. Das „Staatsbürgerschaftsgesetz“ von 1948 gab ihnen die britische Staatsangehörigkeit und ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.
In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre spitzte sich die Lage zu. Von 1956 an wurden in Barbados Arbeiter für die englischen Busse und die „Tube“, die U-Bahn, angeworben; andere Wirtschaftszweige zogen nach. Eine zweite Welle der Migration brachte eine viertel Million Arbeitsuchender. Der Ruf „England soll weiß bleiben“ wurde lauter. Weiße Jugendgangs, die berüchtigten Teddy Boys der fünfziger Jahre, attackierten die schwarze Bevölkerung. 1957 wurde ein Schwarzer namens Kelso Chocrane Opfer des ersten rassistischen Mords dieser Zeit.
In der nordenglischen Stadt Nottingham und im Londoner Stadtteil Notting Hill kam es zehn Jahre nach der Ankunft der Windrush zu gewalttätigen Krawallen gegen die schwarze Bevölkerung. Die Einwanderung für Menschen schwarzer Hautfarbe wurde danach radikal erschwert. Damit wurden sie zu Staatsbürgern zweiter Klasse gemacht.
Mit der Ankunft der Windrush wurde Großbritannien von seiner eigenen Geschichte eingeholt. Die Passagiere waren das nicht vorhersehbare Resultat eines kolonialen Dreieckshandels, der europäische Handelsgüter nach Afrika, Sklaven in die neue Welt, Rohstoffe und hohe Profite nach England gebracht hatte.
Die Ankunft des Schiffes ist ein symbolischer Moment für die britische Nachkriegsgeschichte. Das staatliche Fernsehen BBC hat sie als Beginn der multikulturellen Gesellschaft gefeiert. Im Juni lief eine vierstündige Dokumentarserie mit Interviews von ImmigrantInnen, ZeitzeugInnen und WissenschaftlerInnen zur besten Sendezeit im Fernsehen. Weitere Radio- und Fernsehsendungen sind geplant.
Nicht nur in London stehen zwischen Mai und Oktober Ausstellungen, Festivals, Theateraufführungen, Konzerte und Filmvorführungen auf dem Jubiläumsprogramm. Romanautor und Literaturwissenschaftler David Dabydeen ist überzeugt, daß in Großbritannien nach dem BBC-Medienspektakel niemand mehr an der Bedeutung der Windrush vorbei kann: „Die BBC hat die Windrush wirklich bekannt gemacht. Vor ein paar Wochen noch wußten nur Spezialisten von dem Jubiläum. Jetzt weiß es die ganze Nation.“
Unter den Autoren karibischer Abstammung, die in der Londoner Royal Festival Hall vor rund dreihundert Zuhörern über die Erfahrungen schwarzer Immigranten diskutierten, waren Vertreter der ersten Generation, wie Beryl Gilroy und George Lamming, aber auch jüngere, wie David Dabydeen und Caryl Phillips. Dabydeen ist sicher, daß sich im Vergleich zu den siebziger Jahren viel verändert hat: „Von Rücksiedlung spricht heute keiner mehr.“
Karibische Wurzeln, schwarz zu sein und zugleich britisch – für viele der jüngeren Generation ist es selbstverständlich. Anders als in Deutschland, wo sich Politiker noch heute damit quälen, die Rolle als Einwanderungsland zu akzeptieren, konnten die Arbeitskräfte aus den Kolonien immerhin von Anfang an auf ihre britische Staatsangehörigkeit verweisen.
Aber trotz des wertvollen britischen Passes: Der Weg zur Integration bleibt steinig. Die Feiern um die Windrush rufen auch rassistische Reaktionen auf den Plan. Der schwarze Soziologe Stuart Hall warnt vor übertriebenem Optimismus: „Es gibt einen tiefsitzenden, defensiven Rassismus, der aus dem Bauch kommt und immer noch integraler Bestandteil der britischen Kultur ist.“
Heute leben eine Million Briten mit karibischen Wurzeln auf der Insel. Aus Musik, Literatur und Alltagskultur ist ihr Einfluß – und der anderen Einwanderer – nicht wegzudenken. Das Gegenstück zu Tagesthemen-Sprecher Ulrich Wickert ist in Großbritannien ein dunkelhäutiger Brite, Trevor McDonald. Er ist in allen Schichten beliebt.
So sehr, daß man nur ungern ohne ihn auskommen mag. Als sich die Königinmutter im vergangenen Jahr die Hüfte brach, holte der Sender ITN den Nachrichtensprecher extra von einer Auslandsreise nach Hause, damit er der Nation das Unglück schonend beibringen konnte.
Junge Briten schwarzer Hautfarbe der dritten und vierten Generation lassen sich ihr Selbstbewußtsein nicht mehr nehmen. Für die erfolgreiche Jungautorin Andrea Levy ist das keine Frage der Anpassung: „Wenn Englischsein mich nicht einschließt, dann muß diese Definition eben verändert werden!“
Andere Veranstaltungen:
Bücher:
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen