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■ Das „Schwarzbuch des Kommunismus“ zeigt, daß es bisher kein kommunistisches Regime gab, daß ohne Terror ausgekommen wäre„Der Mangel an liberaler Tradition“

taz: Der Herausgeber des Schwarzbuches, Courtois, schreibt: „Der Kommunismus hat, wo er zur Regierung wurde, ausnahmslos Terror produziert.“

Noberto Bobbio: Es war tatsächlich so: überall. Dieses Buch ist das erste, das zeigt, daß es kein kommunistisches Regime gab, das nicht terroristisch war. Die Mechanismen der Gewaltausübung, die Zahl der Opfer können variieren – aber identisch ist überall die Erbarmungslosigkeit, die Willkür und die Gewaltanwendung zur Machtbehauptung.

Kommunismus und Despotismus sind ausweglos miteinander verbunden?

Dieser despotische Universalismus gehört zur Natur des historischen Kommunismus. Wenn es so ist, muß man fragen, ob die despotische Form der Macht nicht mit dem Wesen des Kommunismus verbunden ist. Jene, die noch versuchen, den Kommunismus zu verteidigen, haben gut reden: „Der historische Kommunismus war eben eine degenerierte Form des idealen Kommunismus.“ Aber warum gab es dann diese Degeneration immer und überall?

Für Courtois gibt es mehrere Antworten auf diese Frage.

Die primäre Antwort ist jene, die in dem Großteil der nachträglichen Rechtfertigungen blüht: die Beziehung zwischen Zweck und Mittel. Wenn es stimmt, daß das oberste Gesetz der Politik jenes ist, daß der Zweck die Mittel heilige, dann gilt auch: Je schwieriger der Zweck zu erreichen ist, desto eher läßt sich die Härte der Mittel rechtfertigen. Schon 1920 hatte Trotzki bei der Abschaffung des Privateigentums – das noch kein Regime vorher versucht hatte – gesagt, daß es keinen anderen Weg gebe als jenen der diktatorischen Macht. Und Lenin sagte: „Die Grausamkeit unseres Lebens – bedingt durch die Umstände – wird verstanden und verziehen werden.“

Ein erschreckendes Zitat...

Die Tragik liegt darin, daß das Ziel nicht erreicht worden ist. Es wurde nicht nur verfehlt – das Ergebnis, das man nach Jahren des Terrors erzielt hatte, war auch genau das Gegenteil des Ziels. Bleiben wir einen Moment bei diesem Punkt: Wenn es wahr ist, daß der Zweck die Mittel heiligt, so folgt daraus, daß das Nichterreichen des Zweckes die Mittel auch nicht rechtfertigen kann. Die Mittel sind also in ihrer nackten Wirklichkeit das, was sie sind. Wenn sie niederträchtig sind, so bleiben sie niederträchtig. Ein Mord ist ein Mord, Terror bleibt Terror und basta. Die Berufung auf die Beziehung zwischen Mittel und Zwecken ist eine der traditionellen Rechtfertigungen des Schlechten. Das Schlechte zum Zwecke des Guten. Die totale Gewalt geht zudem einher mit der Herabsetzung des Feindes zum Nichtmenschen. Man muß Gorki zitieren, der schreibt: „Es ist völlig natürlich, daß die Arbeitermacht ihre Feinde ausrottet, als seien es Läuse.“

Und dies gilt auch für den Nationalsozialismus.

Über dieses Thema ist die Literatur immens. Es reicht, an Primo Levi zu erinnern. Die Insassen eines Vernichtungslagers werden zu Untermenschen gemacht. Der Mechanismus der Vernichtungsideologie, das hat Domenico di Iasio in „Der Schutz der Athene“ gut erklärt, besteht in der Entmenschlichung: Für die spanischen Konquistadoren waren die Indios, für die Nationalsozialisten die Juden, für die Kommunisten die Klassenfeinde keine Menschen, also entweder Läuse oder tollwütige Hunde. Auch in dieser Hinsicht: nichts Neues unter der Sonne.

Das „Schwarzbuch“ nimmt sich vor, die herkömmliche „Hierarchie der Grausamkeit“ umzukehren. Worin sehen Sie Gründe für die bisherige unterschiedliche Bewertung des kommunistischen und des Naziterrors?

Zum einen hatte die Sowjetunion gewichtigen Anteil an dem Sieg über Hitler. Diese unbestreitbare Tatsache ließ uns vergessen, daß die von der Sowjetunion „befreiten“ Länder für Jahre einem System unterstellt wurden, das genauso totalitär war wie das nationalsozialistische. Zudem hat die linke Intelligenz, von der ich selbst ein Teil war, als mildernden Umstand für die Sowjetunion angeführt, daß der Kommunismus ein großes Ideal ist, das die ganze Geschichte des Humanismus durchzieht. Die NS-Ideologie hingegen ist als solche von Anfang an theoretisch falsch und moralisch niederträchtig, weil sie auf der Überlegenheit einer Rasse über alle anderen gründet.

Das „Schwarzbuch“ erklärt die Beziehung zwischen Kommunismus und Gewalt mit dem blutigen Charakter der russischen Geschichte. Ist dies überzeugend?

Viel wichtiger ist eine andere Besonderheit der russischen Geschichte, der bisher nicht genug Beachtung geschenkt worden ist: der absolute Mangel an einer Tradition liberalen Denkens und vor allem der liberalen Politik. Liberalismus bedeutet juristische Begrenzung der Staatsmacht, Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte, Rechtsstaat. Das Gegenteil des autoritären russischen Staates. Die marxistische Theorie des Staates ist eine Theorie der Art und Weise, wie man sich Macht anzueignen habe, und nicht über die Art und Weise, wie man sie ausüben soll. Der Liberalismus hingegen ist in ersten Linie eine Theorie der Ausübung von Macht.

Eine andere Erklärung geht auf Poppers Kritik des historischen Materialismus zurück: Wer glaubt, die Gesetze der Geschichte zu kennen, entledigt sich moralisch jeder Verantwortung, weil alle, die den historischen Ablauf behindern, hinweggefegt werden können müssen.

Es ist richtig, unsere Aufmerksamkeit auf die Interpretation von Popper zu lenken: die Geschichte als Legitimationsprinzip. Neben dem Prinzip der religiösen, moralischen oder juristischen Rechtfertigung der Macht kennt die politische Ideengeschichte das Kriterium der historischen Legitimation von Macht: die Legitimation, die sich auf die vergangene Geschichte bezieht (sie ist konservativen Geistes) und die Legitimation durch eine zukünftige Geschichte, die revolutionärem Gedankengut entspringt. In diesem zweitem Fall hat die Geschichte die gleiche Funktion wie die Vorsehung im religiösen Gedankengut. Die Zeichen der Geschichte zu interpretieren gibt dem dieselbe Kraft und Sicherheit für die zu vollführende Tat, der den unabwendbaren Lauf der Geschichte zu interpretieren glaubt. Es ist kein großer Unterschied zwischen der Behauptung: „Gott ist mit uns“, die das Motto des deutschen Heeres war, und der Aussage „Die Geschichte ist mit uns“, wie es die Revolutionäre aller Zeiten gesagt haben. Interview: Giancarlo Bosetti

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