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Lernen ohne Lehrbuch

Viele Berufsanfänger bringen sich in Praktika das Wichtigste selbst bei. Bei neuen Technologien und Existenzgründungen wird informelles Lernen wichtiger  ■ Von Barbara Dribbusch

Berlin (taz) – Kurse, Umschulung? Na ja. Mit der üblichen Weiterbildungsszene hat Christine Franke wenig am Hut. „Was ich kann, habe ich vor allem on the job gelernt“, sagt die 32jährige Screendesignerin im Berliner Multimedia-Unternehmen Pixel Park. Die ehemalige Kunststudentin hatte vor acht Jahren noch keine Ahnung vom Macintosh und von Programmen wie html, director, freehand und photoshop. Heute konzipiert sie bei Pixel Park die graphischen Internet-Auftritte für Messeunternehmen.

Franke ist ein Beispiel von vielen: In den neuen Technologien fehlen feste Berufsbilder, auch für Existenzgründer gibt es keine umfassenden Ausbildungsgänge. Viele Berufseinsteiger stückeln sich ihre Qualifikation durch Probieren, Praktika und Kurse selbst zusammen. „Die Fähigkeit zum selbstorganisierten Lernen wird künftig eine größere Rolle spielen“, sagt Wolfgang Seitter, Bildungsforscher an der Universität in Frankfurt am Main. Das wichtigste dabei: möglichst viel praktisch verwertbare Erfahrung sammeln.

Das tat auch Christine Franke. Nach dem brotlosen Kunststudium colorierte sie Zeichentrickfilme, schließlich kaufte sie einen Macintosh und belegte einen zweimonatigen Abendkurs in den DV-Programmen Quark und photoshop. Das war die einzige reguläre Weiterbildung. „So als Start ist ein Kurs in der Gruppe gut“, meint sie, „aber dann mußt du selbst herumprobieren. Das intuitive Lernen mit trial and error ist das wichtigste.“ Zu Hause scannte sie in den Mac ihre alten Zeichnungen ein, Stühle, Toaster, Lampen. Per Computer „bemalte“ sie die Möbel, verzerrte die Perspektiven.

Nach fast einem Jahr Herumprobieren bewarb sie sich blind bei dem Berliner Multimedia-Unternehmen Pixel Park. Zufällig suchte die Firma damals Mitarbeiter für ein größeres Projekt mit einem Zeichentrickfilm. Franke verdiente als Praktikantin zwar nur 500 Mark im Monat, saugte dafür aber im Unternehmen alles Wissen auf, das sie kriegen konnte. Inzwischen ist sie seit drei Jahren bei Pixel Park. Sie scannt die Vorlagengraphiken von Möbeln, Masken, Vasen in den Computer ein und bastelt daraus die Internet-Präsentation der Frankfurter Messe.

Formelle Kurse nützen wenig, wenn in der Arbeitswelt immer wieder neues Wissen verlangt wird. „Etwa 80 Prozent des beruflichen Wissens und Könnens wird informell im Kontext der Arbeit erworben und nicht in formalisierten Bildungsgängen“, sagt Ute Laur-Ernst vom Bundesinstitut für Berufsbildung (bibb).

Längst gilt learning on the job als so wertvoll, daß manche Arbeitgeber sogar glauben, Praktika nicht mehr bezahlen zu müssen. „Die praktische Erfahrung wird immer wichtiger“, meint Gerold Denker, geschäftsführender Inhaber einer Berliner Werbeagentur. Er muß es wissen: Der 39jährige ist gelernter Berufsschullehrer, autodidaktischer Tischler und Ex-Kneipenwirt. Über einen betriebswirtschaftlichen Weiterbildungskurs landete er als Praktikant in einer Werbeagentur.

Denker brachte die vor sich hin dümpelnde Buchhaltung auf Vordermann: Er brachte sich per Handbuch das Tabellenkalkulationsprogramm excel bei und stellte die Buchhaltung auf EDV um. Einer der Inhaber bot ihm daraufhin an, in eine neue Firma mit einzusteigen. „Ich habe damals als Praktikant einfach meine Chance genutzt“, meint Denker, der heute selbst die Hospitanten für seine Firma auswählt.

Im 19. Jahrhundert galt der Arbeiter, der sich mit Hilfe eines Bibliothekars philosophisches Wissen aneignete, als Autodidakt. Aber auch Unternehmer wie beispielsweise der Gründer des Krupp-Werkes in Essen lernten nicht nach Lehrbuch: Er besuchte Unternehmen im Musterland der Industrialisierung, in England, um sich dort Chefwissen abzugucken. Das beste Beispiel für informelles Lernen aber waren schon immer die Hausfrauen: Sie guckten sich Kochen und Haushaltsführung entweder von Müttern oder Großmüttern ab.

Die neuen Autodidakten in Softwareläden und Kleinunternehmen lernen weniger im stillen Kämmerlein, sondern immer auch in Gruppensituationen. Laut neueren amerikanischen Studien erwerben die Menschen praktisches Wissen vor allem in Teamsituationen. „Selbständig lernen kann nur“, sieht der Frankfurter Bildungsforscher Seitter als das Gesetz Nummer eins des lebenslangen Lernens, „wer kommunikative Kompetenz hat.“

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