: Besiegtes Volk, ratloser Sieger
In Kaschmir hat Indien nach neun Jahren Bürgerkrieg militärisch gewonnen. Das Ergebnis ist ein hoffnungsloser Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden ■ Aus Srinagar Bernard Imhasly
Ein Ruderboot steckt in einem Garten fest, unter schattigen Blumen, der Boden ein dichtes Grün von Pflanzen. Plötzlich fällt eine Nuß herunter, und der Garten beginnt zu schwanken. Es ist keine Sinnestäuschung. Denn kurz darauf schwimmt eine Ente am Boot vorbei und zieht eine Wasserspur durch den Blätterteppich. In Kaschmir ist nichts so, wie es scheint. Frühmorgens ertönt ein dumpfer Knall über dem Dal-See, gefolgt von einer Serie von Schüssen. Soldaten beim Training oder beim Ausheben eines Nestes von Verdächtigen? Der Eisvogel jedenfalls, auf einem Pfahl sitzend, fliegt nicht auf. Als erschienen ihm solche Geräusche ebenso natürlich wie die plärrenden Lautsprecher der Hazratbal- Moschee, die den Ruf des Muezzins zum Morgengebet über den See tragen.
Srinagar im Belagerungszustand: überall Bunker mit Sandsäcken, an Brücken, Kreuzungen, vor öffentlichen Gebäuden. Aus den Luken ragen Gewehrläufe. Der Besucher erstarrt, bis er, nach Tagen, in den darübergezogenen Tarnnetzen auch schon mal Wäsche entdeckt, die zum Trocknen aufgehängt wurde, und ein zusammengeflicktes Ofenrohr, das Rauch ableitet. Ashok Jaitly, die rechte Hand des Chefministers von Kaschmir: „Wir wollen alle Bunker in der Stadt auflösen – das Problem ist nicht die Sicherheit. Es sind die Soldaten, die nicht ausziehen wollen. Sie haben sich dort heimisch eingerichtet, kennen ihre Nachbarn, kaufen dort ein. Die erfinden sogar Sicherheitsprobleme, um bleiben zu können.“
Der Widerspruch gehört zur Natur von Kaschmir. Ein Hochtal auf 1.700 Meter Meereshöhe, umgeben von einer Krone von Bergen, darunter auch der Nanga Parbat. Doch die schwimmenden Gärten von Srinagar erinnern an ein ländliches Venedig, und der Dunst über dem Wasserspiegel löst die schroffen Konturen der Berge in zarte Linien auf. Die Leute, die hier wohnen, sind wie amphibische Bergbauern, die ihre Schafe über die Pässe treiben und auf schwankenden Booten Seegras ernten. Auch der Muezzin mit seiner Anrufung des Allgütigen ist vielleicht nicht derselbe, der später im kleinen Kreis zum Heiligen Krieg aufstachelt.
In einem der zahllosen überfüllten Kleinbusse explodierte im vergangenen Oktober eine Bombe. Drei Menschen starben, zahlreiche wurden verletzt. So lautet die Version der Polizei. Fragt man Madschid Wani, den Vater des „ersten Märtyrers der kaschmirischen Unabhängigkeitsbewegung“, dann war der Verlauf ein anderer: die Bombe sei in der Nähe eines Bunkers explodiert und habe nur Verletzte gefordert. Doch die Central Reserve Police, Indiens paramilitärische Truppe, habe die Nerven verloren und wild in die Menschenmenge hineingeballert. Dabei habe sie drei Menschen erschossen.
Srinagar im neunten Jahr des Aufstands gibt sich wie jede andere Stadt des indischen Subkontinents: chaotischer Verkehr, Läden, deren Waren auf die Gehsteige überquellen. Zwischen Autos, Schubkarren und Früchteständen zwängen sich die Leute vorbei. Darunter sind viele junge Frauen, den Schleier nicht mehr über das Gesicht gezogen, sondern dieses kokett umrahmend. Noch vor drei Jahren durfte eine Frau, wenn sie denn überhaupt auf die Straße ging, nicht mal gläserne Armreifen tragen, um nicht zu riskieren, daß eine islamische Gruppe ihren Bruder entführte.
Die jungen Männer an den Straßenecken, hohlwangig und unrasiert, sehen zwar immer noch aus wie Revolutionäre. Doch wenn heute Demonstrationen stattfinden, dann sind sie nur noch Routine. Die kleinen Teehäuser schließen nicht mehr, wenn eine Gruppe demonstriert und die Polizei Tränengas verschießt. Der Zeitungsverkäufer an der Ecke hält ein feuchtes Tuch bereit für den Fall, daß die Schwaden ihm lästig werden. Dennoch verschwinden immer noch junge Leute, und ihre Leichen werden Wochen später tot in einem Feld außerhalb Srinagars gefunden oder vom Jhelum-Fluß angeschwemmt. Oder sie werden, wie der Leichnam von Rafik Ahmed, einem Laboranten im Universitätskrankenhaus, von der Task Force, der gefürchteten Spezialpolizei, den Angehörigen übergeben. Scheich Owaiz, der Chef der Antiterrortruppe, gibt zu Protokoll, die Polizei habe Ahmed zu einem Rebellenversteck geführt; er habe dabei einen Fluchtversuch unternommen und sei erschossen worden.
„Nichts davon ist wahr“, behauptet dagegen der Direktor des Krankenhauses. Owaiz residiert im Hari Mahal, dem ehemaligen Palast der Maharadscha-Mutter. Er ist jung und ehrgeizig, und seine Ablehnung der „Militanten“ könnte die eines Patrioten sein, der in ihnen die irregeführten Opfer des pakistanischen Geheimdienstes sieht. „Der harte Kern besteht aus rund 2.500 Kämpfern, etwa 400 davon sind Ausländer, meist Afghanen und Sudanesen. Sie operieren in den Tälern zur Grenze nach Pakistan, aber in die Städte kommen sie nicht mehr.“
Owaiz gibt zu, daß die wichtigsten vier Gruppen sich relativ gut untereinander koordinieren, daß sie die Aktionsgebiete aufteilen, aber bei Waffen und Nachschub autonom bleiben, also direkt dem pakistanischen militärischen Geheimdienst ISI unterstehen. Dieser überwache alles, vom Training über Waffenbeschaffung bis zum Lohn. „Magere 1.500 Rupien im Monat und 100.000, wenn sie umkommen“, sagt Owaiz.
Auch hier gibt es Widerspruch: Madschid Wani ist einer von vielen Gesprächspartnern, die meinen, der Rückzug der Guerilla sei ein taktischer. „Die Bewegung ist von der Oberfläche verschwunden, aber in Wahrheit hat sie sich nur verfeinert. Früher war sie unkoordiniert, sie haben Hit-and-run-Aktionen durchgeführt. Heute kommt es zu Gefechten.“
Der Rückgang der zivilen Opfer und der Zahl der Zwischenfälle scheint diese These zu stützen. Doch die Armee läßt sich von ihren Erfolgen nicht blenden. Die Straße von Srinagar nach Baramulla gleicht einer weitläufigen Garnisonslandschaft. Hier fahren Lastwagenkonvois mit Soldaten, Wassertanks oder Nahrungsmitteltransportern. Rechts und links ziehen Kasernen vorbei, militärische „Dental Clinics“, Kinos, und vor einem Offiziersbungalow frischt ein Soldat das Weiß des Gartenzauns wieder auf. Es ist der Weichteil der gigantischen indischen Militärmaschine, eingebettet in Bilder ländlicher Friedfertigkeit: Bauern beim Getreidedreschen, Hirten, die ihre Schafe über die Wiesen treiben, Mädchen mit Körben auf ihren Köpfen. Alle paar Kilometer haben die militärischen Erbauer der Straße ihre humorigen Sprüche auf Steintafeln gemalt: „Hier beginnt das Glückliche Tal, wo die Welt endet, das Paradies beginnt.“
Wenn es irgendwo keine Zweifel, keine kaschmirische Zweideutigkeit gibt, dann in der Befindlichkeit der Leute. Für sie ist es das Ende der Welt, aber kein Eintritt ins Paradies. Der Traum von größerer Autonomie, von Unabhängigkeit oder gar einem Anschluß an Pakistan mündete in der militärische Kontrolle Indiens, die alles beherrscht. „Ja, wir haben verloren“, sagt selbst Madschid Wani, „wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß Indien Kaschmir nie an Pakistan abtreten wird.“
Mahbooba Mufti, als Abgeordnete der Kongreßpartei die Oppositionsführerin im Parlament von Srinagar, beschreibt die Leute in ihrem Wahlkreis als „ein Volk, das total geschlagen ist, gedemütigt, unterlegen, erniedrigt. Die Leute sind nicht nur gegen Indien, sie sind auch gegen Pakistan, und sie sind gegen die Unabhängigkeit. Alles hat ihnen nur Tod und Mühsal gebracht. Sie haben 40.000 Mitmenschen verloren und nichts dafür gewonnen.“ Mufti beschreibt die Wirkung des neunjährigen Bürgerkriegs: Die meisten Brücken in ihrem Wahlkreis sind zerstört, kein Arzt hat den Mut, in den Dörfern zu praktizieren. „Hochschwangere Frauen müssen oft 50 Kilometer laufen oder getragen werden, um in Anantnag entbinden zu können. Und vor dem Stadteingang ist eine Straßensperre der ,Friendlies‘, die ihnen ihr Geld abnehmen unter dem Vorwand, sie seien Sympathisanten der Guerillas.“ Friendlies sind ehemalige Guerillas, die in der Gefangenschaft zu Freunden „umerzogen“ worden sind.
Umgeben von einem eingeschüchterten, mißtrauischen Volk, in Artillerieschußdistanz zum Erzfeind Pakistan, fällt es dem indischen Militärkoloß schwer, nach dem gewonnenen Krieg den Frieden nicht zu verlieren. Selbst Offiziere wie Generalmajor Ardschun Ray geben zu, daß „es für den Konflikt in Kaschmir keine militärische Lösung gibt. Selbst wenn jeder Terrorist tot ist, wird der Terrorismus nicht ausgerottet sein.“
Doch in der fließenden Situation Kaschmirs, wo zwischen Schuld und Unschuld keine Grenze besteht, weil jeder Kaschmiri ein Verdächtiger ist, wird es beinahe unmöglich, den „Krieg um das Herz und den Verstand des Volkes“ zu gewinnen, so Ray. Ein Armeeoffizier in Delhi weist diese Aufgabe kurzerhand zurück: „Wir haben die militärische Situation zu bereinigen. Den Frieden zu gewinnen, ist Aufgabe der politischen Behörde. Wir haben es fertiggebracht, daß vor einem Jahr Wahlen stattfinden konnten. Nun gibt es ein Parlament in Srinagar, die Politiker sollen nicht nur ans Geldmachen denken, sondern endlich ihre Aufgaben erfüllen.“
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