: Nach dem Wechsel mittags um zwölf
■ Deutschland sitzt beim Essen und redet über den neuen Kanzler und die alten Sorgen, über Pommes rot und Sozialhilfe, über das Glück in Bayern und das Pech mit kleinen Parteien. taz-ReporterInnen haben sic
München, Oktoberfest – „Großartig, großartig!“ freut sich mit nordischem Zungenschlag ein nur augenscheinlich Eingeborener in Tracht. Ein Niedersachse auf Urlaub, wie sich herausstellt. Etwas pikiert blickt ein Paar am selben Tisch vom Brathendl auf. „Wir haben den Schröder nicht gewollt, und wir haben ihn auch nicht gewählt“, sagt er, und sie nickt. In Bayern sei ja zum Glück noch alles in Ordnung, das hätte die Landtagswahl doch gezeigt. Machtverlust für die CSU? Rot-grünes Chaos? „Wir lassen uns doch von so einem Schmarrn nicht den Bierdurst verderben.“
Business als usual am Montag danach: Auf dem Biertisch vor dem Augustinerzelt liegt neben Maß und Brez'n ein Handy, und die beiden Münchener Geschäftsleute, die sich hier diskret zum Mittagessen treffen, messen einem etwaigem Klingeln mehr Bedeutung zu als der Wahlentscheidung vom Sonntag. Eine Gruppe von Neuseeländern, die es geschafft haben, sich in den anderthalb Stunden seit Wies'n-Öffnung schon einen lustigen Rausch anzutrinken, beenden die Diskussion lautstark: „We want beer! Who the fuck is Schröder?“ Stefan Kuzmany
Bremen, Gerichtskantine – „Wenn man in eine Einfahrt einbiegt, muß man besonders vorsichtig sein“, sagt ein Jurist zum anderen. Als die Kantine sich füllt, fällt hier und da eine Äußerung zur Wahl.
„Kohl war doch ganz sympathisch“, meint eine Kollegin. „Aber er war zu lange dran. Es wurde Zeit, das was passiert.“ Ihr männliches Gegenüber nickt stumm. „Schwabbel geht in Rente“, trällert eine Gerichtsreporterin und setzt sich, das Tablett in beiden Händen, zu einem Kollegen. Der zieht die Stirn in Falten. „Ich weiß nicht, was du meinst?“ „Na, der Kohl, der geht endlich in Rente!“ „Ach so“, sagt der Mann und sticht mit der Gabel in die Nudeln. Kerstin Schneider
Nürnberg, Klärwerk – Vesperpause in der Kantine. Es kommen herein: A, B, C, und D, vier Schlosser, alle seit über 20 Jahren in der Werkstatt des Klärwerks beschäftigt, alle über 50 Jahre alt, alle im Blaumann. Sie setzen sich an ihren angestammten Platz und packen belegte Stullen aus.
A (mißmutig seine Abendzeitung beiseite legend): „Die Wahlen? Der Trog bleibt der gleiche, bloß die Schweine ändern sich.“
B (Wurstbrot kauend): „Abwarten. Erst in vier Jahren können wir etwas sagen.“
A: „Ach was. Das ist doch alles ein einziger Schwindel, die da oben sind alle korrupt.“
C (mit erhobenen Zeigefinger): „Der Schröder soll erst mal seine Chaostage abschaffen und seine Arbeitslosenzahlen verbessern.“
D (winkt ab): „Für uns kleine Leute ändern sich sowieso nie etwas. Uns sagt man, wir sollen sparen, und dann erhöhen sie sich schnell ihre Diäten.“
A (blättert in dem Boulevardblatt): „Genau. Jetzt gefallen ihnen dann die Möbel in Bonn oder Berlin nicht mehr, die die Schwarzen ausgesucht haben. Dann kommen neue her, und wir zahlen.“
B (etwas lauter): „Aber den Denkzettel hat der Kohl gebraucht. Von wegen Aufschwung, ich habe nichts gemerkt.“
C (beugt sich vor, senkt die Stimme etwas): „Ich sag dir eines: Jetzt kann es passieren, daß das Großkapital das Geld ins Ausland abzieht. Wo will der Schröder überhaupt das Geld hernehmen, um etwas zu verändern?“
D: „Das kleine Gelump muß alles weg. FDP, Grüne, PDS oder wie sie alle heißen. Wir haben doch schon fast italienische Verhältnisse hier. Wo gibt's denn so etwas, daß die Kleinsten immer das meiste zu sagen haben.“
(Allgemeines Kopfnicken, alle ab). Bernd Siegler
Dresden, Uni-Mensa – „Ahhh!“, dachte Anja G. gestern morgen, als sie das Fenster öffnete. Der Tag war jung, die Sonne flutete über Dresdens Dächer, begierig sog die BWL-Studentin die frische Luft ein. „Das ist die neue Zeit.“ Also nahm sie heute gleich die erste Vorlesung mit. „Ich mußte dringend über dieses Ergebnis reden.“
Die Neue Mensa der TU Dresden, mittags um zwölf: Thomas Z. hat gewählt, Essen I: Bratwurstspieß mit Kartoffelpüree und Fruchtjoghurt. Der Verkehrswirtschaftsstudent ärgert sich über das Bafög-Amt, wo außer Bürokratie wieder nichts rausgekommen ist. „Diskutieren? Warum soll man jetzt noch über das Wahlergebnis diskutieren?“ fragt er. Er sei ein fairer Wahlverlierer: „Die Roten und die Grünen können jetzt zeigen, ob sie's besser können“.
Silvia F. und Susann T., beide studieren Wirtschaftsinformatik, haben anders gewählt: Wiener Schmarrn mit Apfelmus. Susann war am Wahlabend extra in ihr Wahllokal zur Stimmenauszählung gegangen. „Wir freuen uns“, sagt Susann, „aber es ist nicht so, daß wir da heute groß drüber reden.“ Ihre Kommilitonin: „Wozu auch? Die meisten aus meinem Bekanntenkreis haben RotGrün gewählt. Und das kommt ja jetzt“.
Anja G. hat sich einen Kaffee geholt. Natürlich habe sie sich ausgiebig mit den anderen gefreut „Aber jetzt muß ich mich um den Beleg kümmern“. Auch in der neuen Zeit ist ihre Zeit knapp. Nick Reimer
Berlin, Sozialwerk Lazarus – Karin, Hans und René sind tolerant. Sie haben weder Schröder noch die Grünen gewählt, aber sie geben der neuen Regierung eine Chance. Das ist nicht selbstverständlich. Die drei warten schon lange auf bessere Zeiten.
„Wir leben an der unteren Grenze“, sagt der 58jährige Hans. Diese Grenze liegt bei 540 Mark im Monat. Vom Regelsatz der Sozialhilfe leben die meisten, die im christlichen Sozialwerk Lazarus in Prenzlauer Berg vor Brötchen, Tee und Zeitungen sitzen. Viele sind obdachlos, niemand hat Arbeit.
René hat PDS gewählt, weil er „denen“ eine bessere Sozialpolitik zutraut. Aber auch mit Rot-Grün in Bonn wäre der 30jährige zufrieden: „Hauptsache, Kohl ist weg.“ Schröder müsse jetzt halten, was er versprochen hat: „An die kleinen Leute denken. So was wie die Tagesstätte hier, das ist wichtig. Lebenswichtig.“ Auch für Karin, die seit fünf Jahren arbeitslos ist. „Der Schröder soll herkommen und sich ankieken, wie wir leben“, wünscht sie sich. „In der großen weiten Welt rumreisen kann er danach“. Kerstin Willers
Hamburg, Pommesbude – Waltraud übt den Wechsel. „Nee, laß man“, antwortet die Rentnerin, als der verschwitzte Koch an der Fritteuse „das übliche?“, fragt und mit dem Bratwurstwender Richtung Grill zeigt. „Heute möcht' ich Pommes rot.“ „Stellst dich wohl um, weil der Kohl weg ist“, feixt ein Mann im Arbeitsoverall, und Waltraud wird ein bißchen rot. „Na, feiern kann man das schon“, findet sie – weil sie seit 30 Jahren für die SPD stimmt, und weil sie mit dem Besitzer der Pommesbude gewettet hatte, „daß meine Partei diesmal gewinnt“. Deshalb bestellt Waltraud noch ein Bier, „das geht aufs Haus“, lächelt der Koch.
Das Pils muß Waltraud allein trinken; auf Schröders Wahlsieg anstoßen will niemand mit ihr. „Du glaubst doch nicht, daß sich was ändert“, nuschelt der Bauarbeiter, der durch das beschlagene Fenster nach draußen starrt. Auf dem Gehsteig warten Junkies darauf, daß der Druckraum auf St. Pauli öffnet; zwei Polizistinnen verteilen Knöllchen. „Da kann der Schröder noch so lange regieren: Hier bleibt's, wie's ist“, brummt der Mann und wendet sich seinem Teller zu. „Wie immer“ hat er bestellt – Frikadellen mit dunkler Kruste, dazu hellgelben Senf. Judith Weber
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