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■ Rußland: Das ganze Land demonstriert, aber wer ist der Adressat?Surrealer Protest

Im Oktober neigen die Russen dazu, Geschichte zu machen. 1917 die Revolution, 1993 ließ Boris Jelzin unter strahlendem Oktoberhimmel das aufmüpfige Parlament zusammenschießen. In diesem Jahr riefen die Gewerkschaften zur größten Protestaktion seit Ende der UdSSR auf. 25 Millionen Arbeiter, Angestellte und Pensionäre, die seit Monaten auf ihre Löhne warten, prophezeiten die sonst fußlahmen Gewerkschaften, würden auf die Straße gehen. Die Kommunisten legten wie üblich noch einiges drauf. Sie träumten gar von landesweit 40 Millionen.

Tatsächlich haben Rußlands Bürger allen Grund zu demonstrieren. Die Finanzkrise vom 17. August hat die seit Juli geplante Protestaktion jedoch ihres Adressaten beraubt. Die Regierung von Premier Kirijenko ist längst in Vergessenheit geraten. Bleibt nur noch Präsident Boris Jelzin, dessen Rücktritt Kommunisten, Nationalisten und Gewerkschafter fordern. Andererseits wollen sie den vorzeitigen Abschied des einstmals allgewaltigen Kremlchefs aber auch nicht, denn er stört nicht mehr. Die Politik soll Kompromißpremier Jewgenij Primakow gestalten, der mit den Stimmen der Kommunisten ins Amt gelangt ist.

Jelzins Rücktritt würde nicht nur Unmengen nicht vorhandener Wahlgelder verschlingen, sondern auch vom Wesentlichen ablenken: die Krise zu meistern. Zudem fürchten die Kommunisten Verantwortung. Selbst wenn sie das Land im jetzigen Chaos übernähmen, wären ihre Tage gezählt. In der Opposition lebt es sich einfach bequemer. So verkommt der berechtigte Protest zu einer surrealen Inszenierung und Prozession mit den Massen als Statisten. Ganz Rußland ist auf den Beinen. Sogar die Gouverneure mehr als der Hälfte der Oblasts, der Gebietseinheiten der Föderation, marschieren vorneweg. Allen voran Gouverneur – und Ex-General – Alexander Lebed. Exekutive, Legislative, Gewerkschaften und Fabrikdirektoren Hand in Hand. Auch die neue Mittelschicht, der die Krise am übelsten mitgespielt hat, hätte Grund, ihrem Unmut Luft zu machen. Womöglich stoßen am Ende noch die verarmten Oligarchen dazu, deren Finanzimperien über Nacht dahinschmolzen.

Jeder kann seinen Groll plausibel machen. Sie alle säßen im selben Boot, warnte Primakow am Vorabend des Protestes. Wer da nicht mitreist, kann leicht zum Sündenbock werden. Nicht von ungefähr ist die meistgestellte Frage in der russischen Geschichte: Wer ist schuld? Sie hat bisher die Einsicht verstellt, daß alle für das jahrhundertelange Chaos gleich viel Verantwortung tragen. Klaus-Helge Donath

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