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Aus dem Zentrum des Körpers

Er war kein Verwandlungskünstler, sondern Ausdruckskünstler und in allen Rollen immer Minetti. Der Schauspieler Bernhard Minetti starb gestern im Alter von 93 Jahren  ■ Von Hartmut Krug

Das Leben auf der Bühne: diese Wirklichkeit bestimmmt mich“, schrieb Bernhard Minetti in seinen „Erinnerungen eines Schauspielers“: „Schauspieler sein ist meine Art zu leben und mich zu äußern...“

Und so hat Minetti gelebt als Schauspieler, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland. Er hat mehr als 300 Rollen gespielt, war schon Mitte der dreißiger Jahre unter den wichtigen Schauspielern des Preußischen Staatstheaters in Berlin („Bejahenswert“ schrieb Alfred Kerr über seinen Rodrigo in Jeßners „Othello“ von 1932) – und er galt im Alter als der größte deutsche Theaterschauspieler.

Ein Geisteskopf, ein Sprechkünstler von hohen Graden mit einer Stimme, raunend klar: die Stimme des Nebels in Robert Wilsons Inszenierung von Brechts „Ozeanflug“ am Berliner Ensemble schien den Unsichtbaren sichtbar, den Nebel körperlich zu machen. Minettis Stimme in späten Jahren: ein unwiderstehliches, gezogenes, selbstbewußt ironisches Greinen, ein Raunen voll luzider Klarheit. Minetti, der Erzähler böser Märchen, der Schalkhafte, der noch als Greis den Shakespeareschen Puck spielte. Minetti bellte und belferte, röhrte und zog die Betonungen hoch: ein hochrealistisches und zugleich manieristisches Sprechen eines Schauspielers, der meinte, sich immer von der Gefühlskraft der zu spielenden Rolle überwältigen lassen zu müssen. „Ich spiele ja aus dem Zentrum des Körpers, nicht aus dem Bauch, wie man sagt, sondern aus dem Herzen, aus einem unbeschädigten Gefühl heraus, das ich schütze wie eine Mutter in allen Unbilden und Fürchterlichkeiten des Lebens.“

Minetti war kein Verwandlungskünstler, sondern ein Ausdruckskünstler. In jeder Rolle war Minetti als Minetti zu erkennen. Dabei ist es schwer, Minetti als Schauspieler zu beschreiben. Was man beschreiben kann, ist eine eckig-herrische Aura, von verschmitzter Ironie gemildert, sind die erstarrten, verbohrten, eigensinnigen alten Männer, die Minetti in seiner größten Zeit gespielt hat. Seine größte Zeit waren die siebziger und achtziger Jahre, waren seine Zusammenarbeit mit Peymann und schließlich sein künstlerischer Austausch mit Thomas Bernhard.

Geboren wurde Bernhard Theodor Henry Minetti am 26. Januar 1905 in Kiel als Sohn eines Architekten. Schon während seiner Schulzeit wurde er vom Theater gepackt, schon als Primaner ging er zur Statisterie des Kieler Theaters. Den vom Berufswunsch Schauspieler nicht begeisterten Vater köderte der junge Minetti mit dem Versprechen eines Germanistikstudiums. Doch die Studienzeit in München und Berlin war kurz, schon 1925 und 1927 absolvierte Minetti die Staatliche Schauspielschule in Berlin bei Leopold Jeßner. Seinen Ziehvater Jeßner charakterisierend, schildert Minetti auch etwas von seiner eigenen Schauspielkunst: „Die Einsätze waren immer voller Energie, die Figuren stets expressiv und akzentuiert. Er trieb die Szenen zum Kulminationsspunkt und ließ sie dann abklingen. Er war, wie sein Schüler Minetti, immer gefährdet, in den Exzeß hineinzutreiben, andererseits die Vorgänge zu karg und zu bewußt zu machen.“

Mit zwei Schiller-Rollen im „Wallenstein“ am Reußischen Theater in Gera debütierte Minetti als ausgebildeter Schauspieler. Nach nur einer Spielzeit ging er weiter ans Hessische Landestheater in Darmstadt. Hier durchprobte er die großen klassischen Rollen: Hamlet, Tartuffe oder Don Carlos. Minetti nennt die Zeit später seinen „Darmstädter Frühling“. Auf den folgt von 1930 bis 1945 eine große Zeit: Unter Jeßner und unter Gustaf Gründgens spielte er am Berliner Staatstheater. Jetzt war es der Wallenstein selbst, der Franz Moor, Macbeth, Geßler, Robespierre. Minetti spielte auf der „Insel der Seligen“, wie die Staatstheater damals genannt wurden.

Diese „reine“ Theaterzeit während des Drittens Reiches wurde Minetti später gelegentlich zum Vorwurf gemacht. Minetti meinte dazu: „Ich habe nicht hingesehen. Ich habe die Augen verschlossen, wissend, was Hitler bedeutet. Ich habe nichts dagegen getan. Vielleicht war ich feige. Das sind Gewissensfragen. Ich durchschaue das Übel der Welt. Ich habe auch den Nationalsozialismus durchschaut. Ich bin nicht dumm und nicht unempfindlich. Aber ich habe gelernt, mich herauszuhalten. Ich habe die Fähigkeit entwickelt, mich abzuschirmen, aus Selbstschutz. Meine Existenz ist mein Theaterleben, Schauspieler zu sein ist mein Trieb, meint Notwendigkeit.“ Minetti hat allerdings 1944 bei der Uraufführung von Hans Rehbergs Durchhaltestück „Die Wölfe“ selbst in Breslau Regie geführt, und er hat in Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ mitgespielt. Der Schauspieler, der Max Reinhardts Theater für zu glatt und harmonisch hielt, scheint in Deutschlands dunklen Jahren die Harmonie im Spiel gesucht zu haben. „Das Theater war meine Rettung und ist es bis heute. Vor der Welt, vor dem Leben, vor der Verzweiflung.“

Nach dem Krieg beginnt Minetti in seiner Heimatstadt Kiel, auch als Regisseur und Schauspieldirektor. Dann folgt Hamburg mit dem großen Erfolg als Faust, und nach zweijähriger Gastspielzeit landet er Mitte der fünfziger Jahre am Frankfurter Schauspiel. Doch erst als er wieder nach Berlin geht, ans Schiller Theater, gelingt ihm der große Durchbruch. Er wird zum bevorzugten Darsteller für kalte, intellektuell zynische Charaktere, gab geheimnisvoll gebrochene Figuren in den Stücken von Beckett, Genet und Dürrenmatt, war ein eisern kalter Edgar unter Rüdiger Noelte in Strindbergs „Totentanz“. Ein spätexpressionistischer Schauspieler von harscher Herbheit, sachlich und aufgeteilt zugleich. In den siebziger Jahren war Minetti der Darsteller von Thomas Bernhards Stücken. Der General in der „Jagdgesellschaft“, dann der „Weltverbesserer“. Bernhard schrieb sogar eigens für Minetti ein Stück: „Minetti – ein Porträt des Künstlers als alter Mann“. Thomas Bernhard bejubelte seinen Bernhard Minetti, der selbst lange Jahre ein offenes Sportcabriolet fuhr, als „Formel-1-Fahrer des Theaters“.

Die Schließung seines Schiller Theaters hat ihn tief getroffen. Das Berliner Ensemble schien ihm 1994 eine neue Heimat. In Heiner Müllers Inszenierung von Brechts „Arturo Ui“ spielte Minetti den Schauspieler, der dem ungeschickten, aber aufstiegswilligen Diktator Schauspielunterricht erteilt. Eine Szene von großer analytischer Klarheit und spielerischer, zurückhaltender Brillanz: die Bilanz eines langen und großen Schauspielerlebens. In dem auch viele mißglückte Rollen, manch durchwachsene Künstlerzeit ihren Platz fanden. Wie auch die Begeisterung zu gutem Essen und für den Fußball. Minetti, der enge Freund von Herberger, war ein Fußballnarr und ein Theatergeisteskopf, wie Thomas Bernhard schrieb. „Die Kunst enthält für den, der sie ausübt, eine Schutzschicht.“

Bernhard Minettis Schauspielkunst war seine Schutzschicht. Mit ihr ist er alt geworden. Im Alter von 93 Jahren ist Bernhard Minetti gestorben.

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